Der Ausdruck „atyischer Gesichtsschmerz“ (auch chronischer Gesichtsschmerz genannt) wurde ursprünglich geschaffen, um die Trigeminusneuralgie von anderen Schmerzsyndromen im Gesicht abzugrenzen. Die Internationale Kopfschmerz-Gesellschaft IHS definiert ihn als anhaltenden Gesichtsschmerz ohne organische Ursachen.
Es handelt sich um einen Gesichtsschmerz, der nicht die Kriterien eines Deafferenzierungsschmerzes, einer Neuralgie, entspricht und der nicht durch Zahnleiden, Augen- oder Ohrenleiden, Nasennebenhöhlenentzündungen, Tumore im Kopfbereich, etc. verursacht ist. Damit handelt es sich per Definition zunächst um eine Ausschlussdiagnose. Entsprechend der Art und des Auftretens des Schmerzes müssen zunächst andere Ursache ausgeschlossen worden sein, bevor diese Diagnose gestellt wird.
Der Schmerz kann nach einer Operation oder einer Verletzung des Gesichts, der Zähne oder des Gaumens auftreten, aber besteht weiter ohne jede nachweisbare lokale Ursache. Viele Patienten kommen erst zum Neurologen, nachdem sie sich einer Vielzahl erfolgloser und die Symptome meist verschlimmernder Eingriffe wie gesunde Zähne ziehen, Wurzelbehandlungen, unnötigen Nebenhöhlenoperationen oder Kiefergelenksoperationen unterzogen haben. Nicht selten sind dabei Sekundärschäden verursacht worden. Je häufiger solche Eingriffe in der unmittelbaren Vorgeschichte durchgeführt wurden, umso einfacher oft die Diagnose, umso schwieriger aber auch die Behandlung. Etwa ein Viertel der Patienten, die sich in Kopfschmerzzentren mit Gesichtsschmerzen vorstellen, leiden unter einem atypischen Gesichtsschmerz (Zebenholzer et al. 2016).
Diagnostische Kriterien
Nach den diagnostischen Kriterien der IHS ist der atyischer Gesichtsschmerz so definiert:
- A. Es handelt sich um einen täglich vorhandenen Schmerz, der den größten Teil des Tages vorhanden ist.
- B. Zu Beginn ist der Schmerz auf eine bestimmte Lokalisation einseitig im Gesicht begrenzt. Der Schmerz kann sich auf den Unter- und Oberkiefer oder ein größeres Areal im Gesicht oder Nacken ausbreiten. Er wird tief empfunden und der Schmerzort ist meist nicht genau zu benennen.
- C. Der Schmerz ist nicht begleitet von Sensibilitätsstörungen oder anderen pathologischen neurologischen Untersuchungsbefunden.
- D. Laboruntersuchungen, Röntgenbilder des Gesichtsschädels und des Kiefers zeigen keine relevante Abnormalität.
Symptome
Es handelt sich meist um einen dumpfen Schmerz im Gesicht, der mehr als 6 Monate andauert, immer wieder von heftigen Episoden gekennzeichnet ist. Er unterscheidet sich von der temporomandibulären Dysfunktion und von Mundbrennen durch die Lokalisation der Schmerzen und die lang anhaltende Symptomatik sowie die Schmerzcharakteristik. Er tritt täglich auf, hält mehr oder weniger den ganzen Tag an und kann sich von einem bestimmten Gesichtsareal auf benachbarte Bereiche oder sogar zum Nacken hin ausbreiten.
Die Schmerzlokalisation entspricht nie dem Versorgungsbereich eines sensiblen Gesichtsnerven. Der Schmerz kann einseitig, beidseitig und seitenwechselnd auftreten. In über 90% der Fälle handelt es sich um einen Dauerschmerz wechselnder Intensität. Die Schmerzqualität wird als brennend, stechend, drückend oder pulsierend angegeben. Triggerfaktoren sind die Ausnahme. Neurologische Ausfallserscheinungen, insbesondere sensible Defizite, und andere körperlichen Symptome fehlen. Gelegentlich schildern die Patienten Dys- oder Parästhesien. Die sog. „atypische Odontalgie“ und die „Glossodynie“ sind Varianten des atypischen Gesichtsschmerzes. Daten zur Häufigkeit und zum Spontanverlauf sind nicht bekannt. In 90% sind Frauen betroffen. Symptomfreie Phasen können auftreten und Monate anhalten. Ursachen sind nicht bekannt. In mehr als 2/3 der Fälle wird der atypische Gesichtsschmerz von einer depressiven Verstimmung begleitet, auch eine Somatisierungstendenz ist häufig erkennbar.
Die Diagnose ist auch bei typischen Beschwerden eine Ausschlussdiagnose:
Intrakraniell gelegene Tumoren des N. trigeminus oder seines Ganglions, des Kleinhirnbrückenwinkels, der Schädelbasis, der Orbita und des Nasopharynx sowie Infektionen im Bereich der Nebenhöhlen und Kiefer oder als Folge von Zahnextraktionen können damit verwechselt werden. Die Diagnose ist immer eine Ausschlussdiagnose und erfordert differentialdiagnostisch den Einsatz apparativer, insbesondere bildgebender Untersuchungsmethoden (immer NMR / MRT). Manche Autoren sehen ihn als eine Variante des Spannungskopfschmerzes, andere diskutieren pathogenetisch eine Dysfunktion im zentralen antinozizeptiven System.
Therapie
Die Behandlung:
Die Wechselwirkung organischer und psychologischer Faktoren im Somatisierungsprozess macht die Behandlung schwierig. Bereits der Hinweis des Arztes, dass es sich nicht um eine gefährliche Erkrankung handelt, kann hilfreich sein. Eine durchweg erfolgversprechende Therapie steht nicht zur Verfügung. Verhaltenstherapeutische Strategien erweisen sich als relativ effizient. Die positive Wirkung von trizyklischen Antidepressiva (am besten untersucht ist Amitryptilin aber auch Fluoxetin gilt als wirksam) als Monotherapie oder flankierend zur Verhaltenstherapie beruhen nicht nur auf deren antidepressiven Effekten, sondern auch auf eigenen zentral schmerzlindernden Eigenschaften.
Nicht wirksam und kontraindiziert:
Schmerzmittel sollten nicht verordnet werden, weil sie meist ineffektiv sind und einen medikamenteninduzierten Kopfschmerz verursachen können. Operative Maßnahmen – insbesondere auch wieder Zahnextraktionen und Wurzelbehandlungen – sind kontraindiziert. Infrarotbestrahlung, Neuraltherapie, autogenes Training, Akupunktur, Physiotherapie, analytische Psychotherapie und Hypnose, chiropraktische Manöver und Hydrotherapie bringen nicht mehr als Plazeboeffekte.