Bindungen

Die Fähigkeit zur Bildung stabiler sozialer Bindungen ist einer der wichtigsten Bestandteile menschlicher Beziehungen und beginnt direkt nach der Geburt. Normalerweise bemühen sich gesunde Eltern ihrem Kind eine berechenbare soziale Umgebung zu bieten. Sie lernen die Bedürfnisse des Kindes zu erkennen und darauf zu reagieren. Bei ihren Reaktionen achten sie auf Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit für das Kind. Dies gibt dem Kind Sicherheit und ermöglicht ihm auf dieser Grundlage das soziale Lernen. Verschiedenste Wahrnehmungsbereiche (sensorische, kognitive, und affektive Systeme) müssen zusammenarbeiten, damit stabile soziale Bindungen zwischen den Eltern und dem Kind entstehen können. Diese Bindung zeigt dann sofortige Auswirkungen auf das Verhalten des Säuglings oder Kindes, auf sein sich in Beziehung zur Umwelt setzen. Das Bindungsverhalten der Mütter/frühen Bezugspersonen beeinflusst signifikant die Entwicklung und Reifung des menschlichen Gehirns. Heimkinder, insbesondere in schlechten Heimen haben später häufig große Probleme soziale Beziehungen und Freundschaften aufzubauen, ihre Impulskontrolle und ihr Sozialverhalten zu steuern, sie sind oft zuwenig misstrauisch gegenüber Fremden, zeigen atypische und ungehemmte Bindungsmuster. Ein Teil dieser früh erworbenen Defizite ist korrigierbar, wenn die Kinder zeitig adoptiert werden. Frühe Bindungen beeinflussen die spätere emotionale Entwicklung. Die Auswirkungen der sozialen Deprivation des Säuglings hat die Menschen schon immer beschäftigt Romulus und Remus, die Gründer von Rom wurden von Wölfen großgezogen, der Sagen umwobene Kasper Hauser ist zu einem Synonym der Hospitalismus geworden, auch wenn die Genese mehr Spekulation blieb. Rene Spitz und John Bowlby beschrieben Kinder die in Waisenhäusern unter verwahrlosten Bedingungen ausgewachsen waren und zahlreiche Verhaltensstörungen zeigten. Tierexperimente u.a. mit Affen haben diese Defizite im Erlernen sozialer Fertigkeiten nachvollziehen können. PNAS December 20, 2005 vol. 102 no. 51 18247–18248

Frühe Vernachlässigung kann bei den meisten Kindern vermutlich nie ganz ausgeglichen werden. Säuglinge zeigen bereits ab der Geburt ein Bindungsverhalten zu den sie versorgenden Erwachsenen. Dieses in Wechselbeziehung erlernte Bindungsverhalten ist für die Steuerung der Emotionen bis ins Erwachsenenalter wichtig. Die Untersuchung der Auswirkungen unstabiler Bindungen oder schädigenden Bindungsverhaltens auf die Gehirnentwicklung und die Heranbildung einer Persönlichkeit ist naturgemäß schwierig. Hirnentwicklung und die Ausbildung eines Bindungsverhaltens sind sehr komplex, sie gehen zeitlich immer parallel und beeinflussen sich gegenseitig. Aus der Untersuchung extrem vernachlässigter Kinder schließen Forscher in neueren Studien, dass die Neuropeptide Vasopressin und Oxytocin bei der Steuerung des Bindungsverhaltens ein wichtige Rolle spielen. Auch nach 3 Jahren waren bei den vernachlässigten Kindern, die sich inzwischen in einer gesunden Umgebung in Pflegefamilien befanden, die Schädigung der Gehirnentwicklung und der Konzentration der Neuropeptide Vasopressin und Oxytocin weiter nachweisbar. Alison B. Wismer Fries et al., Early experience in humans is associated with changes in neuropeptides critical for regulating social behavior PNAS November 22, 2005 vol. 102 no. 47 17237–17240.

Als Resultat früher Bindungsstörungen kann bei Kleinkindern eine schwere Störung der emotionalen Kontaktfähigkeit mit Essproblemen, langsamem Gedeihen mit Wachstumsstörungen und kognitiven Defiziten, abwesendem und nicht auf Kontakt reagierendem Verhalten, Problemen das Kind zu beruhigen, Zwängen und Verhaltensstörungen, Hemmung und Schüchternheit in sozialen Kontakten und Enthemmung im Kontakt mit Fremden entstehen, die mit dem Älterwerden nicht abklingen. Manche dieser Kinder zeigen autistische Verhaltensweisen. Kinder in Pflegefamilien entwickeln sich deutlich besser als Heimkinder. Wenn die Adoption aus einem Heim nach dem 6. Lebensmonat erfolgt können liebevolle Umgebungen oft die Defizite nicht mehr vollständig kompensieren. Besonders intensiv wurden hier Adoptivkinder aus rumänischen Heimen untersucht. Je älter Kinder bei der Adoption aus Heimen sind, umso schlechter können sie Defizite kompensieren. J Child Psychol Psychiatry. 1998 May;39(4):465-76.

Internalisierung (Stabilität der inneren Bilder, Emotionale Bedeutung der Anderen, Strukturspezifische Angst bei Objektverlust) Loslösung (Toleranz für Trennungen, Trauerfähigkeit) Variabilität der Bindungen (Unterschiedliche Bindungen, Triadische Beziehungskonstellation) Bindungen haben zweierlei Funktionen, einmal Schutz und Entspannung bei Angst und Gefahr und zweitens entspanntes Kennenlernen der Umwelt im Schutz der sicheren Basis. Beide Aspekte sind notwendige Voraussetzungen für Anpassung im biologischen Sinn. Darum gilt als Kennzeichen einer sicheren Bindung auch konzentriertes Explorieren, wenn im Schutz der Bindungsperson die Umwelt ungefährlich ist. Teil der Definition von Bindungssicherheit ist das Konzept Sicherheit der Exploration mit folgenden Merkmalen:

  1. Realistische Wahrnehmung der Gefährlichkeit/Ungewissheit einer Situation.
  2. Erwartung, dass alle Signale der Hilfsbedürftigkeit aber auch der Wunsch nach ungestörter Exploration feinfühlig beantwortet werden.
  3. Erwartung, dass sich die Bindungsperson bei engagiertem Tun nicht ungefragt einmischen wird, aber auch, dass der Schutz nicht verweigert wird.
  4. Bei explorativer Verunsicherung Erwartung, dass Unterstützung und Anleitung so feinfühlig gegeben wird, dass die Aufgabe ohne Unterbrechung der Konzentration weiter verfolgt werden kann und mit eigenen Kräften und Fähigkeiten meistern kann.

Die Bindungsstile eines Menschen haben Einfluss auf sein Krankheitsverhalten und damit auch auf die Prognose seiner körperlichen wie psychischen Erkrankungen. Diabetiker, die eher misstrauisch sind, sich hauptsächlich selbst helfen und wenig Vertrauen zu den betreuenden Ärzten haben, haben eine schlechtere Blutzuckerkontrolle. Diabetes Care 25:731-736, 2002.

Allgemein ängstlich- besorgte Menschen zeigen eine erhöhte Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. P. S. Ciechanowski, E. A. Walker, W. J. Katon, and J. E. Russo, Attachment Theory: A Model for Health Care Utilization and Somatization, Psychosom Med, July 1, 2002; 64(4): 660 – 667. [Abstract]

Empirisch und prospektiv lässt sich zeigen, dass väterliche feinfühlige Herausforderung im Spiel mit dem Kleinkind langfristig die Sicherheit der Exploration fördert, z. B. gemessen an Fremdbeurteilungen im Alter von 16 Jahren.

„Bindungsstile“ nach Kim Bartholomew. Sicherer Typ: hat keine Probleme, enge Bindungen einzugehen, auf andere angewiesen oder für andere da zu sein. Ängstigt sich aber auch nicht davor, partnerlos zu sein, oder nicht akzeptiert zu werden. Sichere Bindungsstile entstehen aus sicheren und zuverlässigen Bindungserfahrungen, feinfühliges Verhalten der Bezugspersonen fördert sichere Bindungsstile. Menschen mit sicheren Bindungsstilen haben ein positives Selbstkonzept und ein stabiles Selbstwertgefühl. Sie können ihre Emotionen gut regulieren, zeigen ein offenes, zugewandtes Interaktionsverhalten und die zwanglose Äußerung positiver und negativer Gefühle ohne Angst oder Schuldgefühle. Sie tragen ein geringeres Einsamkeitsrisiko. Unsichere Bindungsstrategien entstehen, wenn frühe Bindungserfahrungen nicht zuverlässig oder nicht vorhersehbar waren. Hieraus entsteht eine Angst vor dem Verlassen werden. Anklammernder Typ: leidet ohne feste Beziehung; möchte sich mit anderen eins fühlen, gewinnt jedoch den Eindruck, dass andere sein Bedürfnis nach Nähe nicht gleichermaßen teilen. Sorgt sich, nicht genug geschätzt zu werden. Ängstlicher Typ: wünscht sich enge Bindungen, findet es aber schwierig, anderen zu vertrauen oder abhängig zu sein. Aus Angst, verletzt werden zu können, lässt er niemanden wirklich nah an sich heran. Von Einsamkeit ist er am häufigsten bedroht. Abweisender Typ: fühlt sich ohne enge Beziehungen wohl und verneint das Bedürfnis nach Nähe. Will auf niemanden angewiesen sein und möchte auch nicht, dass andere von ihm abhängen. Auch in einer traditionellen Kultur (Trobriand Inseln) explorieren Kleinkinder mit sicherer Bindung zur Mutter häufiger ´fremde´ Spielsachen als Kinder mit unsicherer Mutter-Bindung. Der menschliche Säugling ist verhaltensbiologisch präadaptiert auf erwachsene Mitmenschen.

Bindungen an besondere Erwachsene entwickeln sich durch die Art, wie diese die Kommunikation seiner Bedürfnisse beantworten: Nehmen sie diese wahr, interpretieren sie sie richtig, und reagieren sie angemessen und prompt. Dies bewirkt bereits mit 12 Monaten sichere oder verschiedene unsichere Organisationen von Bindungsgefühlen und -verhalten (Ainsworth). Sie sind in diesem Alter (noch) nicht kind- sondern beziehungsspezifisch. Kognitive Entwicklungen bewirken später einen ersten Übergang von ziel-orientiertem zu ziel-korrigiertem Verhalten (Bowlby). Dabei werden je nach Bindungsqualität eigene Absichten und Repräsentationen zunehmend mit denen der Bindungspersonen abgestimmt. Sprachliche Diskurse spielen bei der Entwicklung solcher narrativer Autobiographien eine zentrale Rolle (Nelson). Sprachliche Kohärenz betrifft dabei einmal die linguistische Stimmigkeit des Gesagten, und zum andern die Übereinstimmung mit dem tatsächlichen Geschehen. Dies führt zum zweiten Übergang zu narrativen Repräsentationen von Bindung wie im Adult Attachment Interview (Main).

Die Vielzahl von Kriterien zur Bewertung Innerer Arbeitsmodelle Erwachsener auf der Grundlage sprachlicher Repräsentation von Bindung wird wie folgt gesehen: Das handlungsfähige Individuum lernt durch Einbindung in seine soziale Mitwelt (´Ressourcenaktivierung´) realistische Ziele in seiner wirklichen Umwelt (´Perspektiven´) zu verbinden mit seiner kognitiven und emotionalen Innenwelt und mit seinen Kompetenzen (´Motivklärung´). Dies steht im Dienste individueller Anpassungen an psychologische Komplexität und führt zu unterschiedlichen Entwicklungsverläufen. Dabei spielen evolutionsbiologische (Donald), psycholinguistische (Nelson), kognitiv- entwicklungspsychologische (Harris, Meins) und klinische (Fonagy, Grawe) Ansätze mit. Sogar Aspekte moderner Intelligenzforschung, die von der Herstellung internaler Kohärenz und externaler Korrespondenz ausgeht (Sternberg) tragen zu dieser, wie es scheint, bei weitem umfassensten Integration umfassender theoretischer und empirischer Erkenntnisse bei. Die Bindungstheorie geht davon aus, dass in Abhängigkeit von frühen Beziehungserfahrungen verschiedene Bindungsstile im Sinne adaptiver Verhaltensmuster entstehen. Main (1990) spricht von der Entwicklung einer primären Bindungsstrategie, wenn Wünsche nach Zuwendung und Unterstützung zuverlässig befriedigt wurden. Ein Mangel an derartigen Erfahrungen führt dagegen zur Entstehung sekundärer Bindungsstrategien: Nicht vorhersagbare Zuwendung hat eine hyperaktivierende Bindungsstrategie zur Folge, eine deaktivierende Bindungsstrategie entwickelt sich aufgrund nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen verfügbarer Bezugspersonen. Kobak und Cole (1994) postulieren, dass bei vorliegender Deaktivierung des Bindungsverhaltenssystems bindungsrelevante Informationen (und zugehörige Gefühle) vom Bewusstsein ferngehalten werden, bei einer Hyperaktivierung werden sie hingegen intensiver wahrgenommen. Im Mittelpunkt der Bindungstheorie steht die Annahme, dass Kinder gegen Ende ihres ersten Lebensjahres eine differentielle Beziehungsqualität gegenüber ihrer primären Bezugsperson entwickelt haben, die den weiteren Entwicklungsverlauf ausschlaggebend beeinflusst. Eine zentrale Annahme der Theorie besagt, dass individuelle Unterschiede der Bindungsmuster wie sie in der Fremde-Situation beobachtet werden können auf unterschiedliche Erfahrungen der Kinder während ihres ersten Lebensjahres zurückgeführt werden können. Diese Erfahrungen werden mittels des Konzeptes mütterlicher „Feinfühligkeit“ beschrieben und untersucht.

Meta-Analysen und aktuelle Studien zeigten jedoch, dass die empirischen Befunde diese Annahme noch nicht eindeutig bestätigen konnten. Insbesondere sind Vorhersagen aufgrund sehr früher Interaktionsanalysen noch relativ selten. Wenn Kleinkinder im Alter von rund einem Jahr bei einer Trennung von der Mutter heftige Tränen vergießen, müssen sich die Eltern keinerlei Sorgen machen. Eine solche Reaktion des Kindes sei völlig normal, sagte der Kinderpsychiater Dr. Karl Heinz Brisch, Leiter der Kinderpsychosomatik am Dr. von Haunerschen Kinderspital im Vorfeld des internationalen Kongresses zur frühkindlichen Bindung,. Anlass zur Sorge bestehe vielmehr bei den pflegeleichten Kleinkindern, die ohne Probleme bei anderen Personen blieben, sagte Brisch. Bei „pflegeleichten“ Kindern liege oft eine Störung in der frühkindlichen Bindung an die Hauptbezugspersonen vor. Diese pseudo- autonomen Kinder ließen sich den Trennungsschmerz nicht anmerken, bezahlten dies aber mit großem inneren Stress. In mehreren Studien sei belegt worden, dass diese Kinder in solchen Situationen extrem viel Stresshormone ausstoßen, auch wenn sie äußerlich cool bleiben. Die Ausbildung der emotionalen Bindung, die ein Kind im Laufe des ersten Lebensjahres an seine Hauptbezugspersonen entwickle, habe Auswirkung auf das gesamte spätere Leben. Mit dem Alter von rund einem Jahr sei für das Kind die Hauptbindungsperson nicht mehr beliebig austauschbar. Bindungsgestörte Kinder könnten im Extremfall psychosomatisch derart reagieren, dass sie nicht mehr wachsen. Dies sei eine Reaktion auf den gravierenden Mangel an Zuwendung, erklärte Brisch.

Nach den Ergebnissen mehrerer Studien zeigen nur rund 65 Prozent aller Kinder ein sicheres Bindungsverhalten, beim Rest liegen mehr oder weniger gravierende Bindungsstörungen vor, hieß es. Die Experten warnten Eltern vor Drohungen mit einer Trennung nach dem Muster „Wenn du nicht zu weinen aufhörst, lasse ich dich allein“. Die Kinder würden nach solchen Äußerungen schnell lernen, Bindungsverhalten nicht mehr zu zeigen und nicht mehr zu weinen – der Preis dafür könnten aber psychische Störungen sein Die Unterbringung von Kleinkindern in Kinderkrippen sei unter bindungspsychologischen Aspekten kein Problem, wenn es eine ausreichend lange Eingewöhnungsphase gebe, sagte Brisch. In dieser Phase könne sich das Kind eine Ersatz-Bindungsperson suchen. Drei Tage für eine Eingewöhnung seien aber viel zu kurz. Die Mütter müssten 14 Tage oder drei Wochen mit in die Kinderkrippe gehen und anfangs noch die ganze Zeit dableiben. Auch für die Eingewöhnung von Dreijährigen im Kindergarten müssten rund 14 Tage veranschlagt werden, aber hier liege bei den meisten Kindergärten noch viel im Argen. Jede 3. Ehe in Deutschland wird geschieden.

Etwa 150 000 Kinder sind jährlich von den Scheidungen ihrer Eltern betroffen. Fast 3 Millionen Menschen ziehen ihr Kind alleine auf. Über 13 Millionen Menschen leben allein. Dennoch soll es noch nie in der deutschen Geschichte so viele über Jahrzehnte haltbare Ehen gegeben haben wie heute. Ein Vergleich der Jahrgänge von 1913 – 1970 kommt zum Schluss, dass noch nie so viele junge Menschen in Deutschland bis zu ihrem 18. Lebensjahr mit ihren beiden Eltern aufgewachsen sind wie heute – 80%. Noch Anfang der 60er Jahre war kriegsbedingt die Zahl der allein erziehenden Mütter höher als jetzt. Auch die steigende Lebenserwartung trägt trotz späteren Heiratsalters zu einer längeren Ehedauer bei. (etwas zynische Hypothese Trennung sei zu einer Substitution des Todes geworden). Trotzt steigender Scheidungszahlen bleibt die Zahl der Scheidungswaisen relativ konstant, denn scheiden lassen sich vor allem Paare ohne minderjährige Kinder oder Paare mit nur einem Kind. Wenn Haushalte kleiner werden, heißt das im Zeitalter von Internet und Handy nicht zwangsläufig, dass die Bindungen schwäche werden. Intimität und Liebe findet oft auch über hunderte von Kilometern statt. Familienverbände können stabil bleiben auch wenn die Haushalte und Mitglieder in alle Himmelsrichtungen gezogen sind. Über die Bindungsfähigkeit der Menschen sagen die Scheidungszahlen sehr wenig aus. Ehen und Familien waren früher oft nichts anderes als Verbindungen zur Bewältigung von Not und Gewohnheitseinrichtungen. Sie waren ohne Alternative. Im Verhältnis dazu ist die Trennung heutzutage keine großer Akt mehr. Die Menschen wägen stärker Vor- und Nachteile einer Scheidung ab gegenüber einem sinnentleerten Beieinanderbleiben. Zufall, Schicksal, Fügung werden immer weniger ergeben hingenommen. Gemeinschaften denen man leicht beitreten und die man leicht wieder verlassen kann werden immer wichtiger. Sie sollen nicht dauerhaft verpflichten, sondern nur in dem Maße wie sie gerade in unser aktuelles Konzept passen. Dabei entstehen mitunter ganz intensive Wirgefühle, kurzzeitige Solidaritäten und Loyalitäten. Der dauerhafte Charakter früherer Gemeinschaftsformen wie der Familie in die man hineingeboren wird, der Dorf oder Kirchengemeinschaft, in der man aufwächst, wird individuell unwichtiger – mit allen Konsequenzen. Bande die wir lösen, lösen nicht nur Fesseln, sondern auch Verlässlichkeiten. Gute Trennungen aus denen Partner und Kinder unbeschadet hervorgehen sind möglich, jedoch eine hohe und leider seltene Kunst. Sie erfordern nicht weniger soziale Kompetenz und emotionale Kraft als eine gelungene Ehe. Kein moderner Staat kann es sich heute noch leisten, die Hälfte seine Ressourcen ungenutzt zu lassen. Hoch qualifizierte Frauen drängen auf den Arbeitsmarkt und bestehen auf finanzieller Unabhängigkeit und autonomer Existenz. Bei rückgängigen Verlässlichkeiten ist es in unserer Gesellschaft ein Vorteil seines eigenen Glückes Schmied zu sein. Wirtschaftlich sind Klein- Familien immer mehr auf 2 oder 3 Erwerbseinkommen angewiesen. Männer kommen zunehmend besser den Forderungen nach Beteiligung an der Hausarbeit und Erziehung nach. In den USA soll schon jeder 3. Alleinerziehende Elternteil ein Mann sein. Viele Kinder aus verwirrenden Familien reifen unverdrossen zu intakten Persönlichkeiten, wenn es ihnen gelingt, die Bindungen zu den Eltern durch die an andere Personen zu ersetzen. Sind genügend Lehrer, gute Schulen und die richtigen Freunde vorhanden, erweisen sich häusliche Situationen nur als unbedeutende Hindernisse und können sich später sogar als nützlich für die Charakterbildung des Kindes herausstellen.

Querschnittliche Fragebogenstudien belegen, dass Personen mit sicherer Bindungshaltung häufiger in Paarbeziehungen leben, unsicher-vermeidende am seltensten. Doch die Ergebnisse von Längsschnittstudien sind inkonsistent: z.T. wurden negative Effekte von unsicherer Bindungshaltung auf die Beziehungsstabilität gefunden, z.T. nur in der Teilgruppe der Vermeidenden, nicht aber für Ambivalente, andere Studien fanden gar keinen signifikanten Effekt. Eine Studie belegt sogar, dass vermeidende Männer und ängstlich-ambivalente Frauen die stabilsten Beziehungen führen, sicher-sichere Beziehungen von mittlerer Stabilität sind und ängstliche Männer und vermeidende Frauen die unstabilsten Beziehungen haben. Nach einer Trennung neigen ambivalente Frauen besonders dazu, sich auch weiterhin mit missbrauchenden Expartnern emotional und sexuell einzulassen

 

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur