Evidenz =Augenscheinlichkeit, Offensichtlichkeit, völlige Klarheit, gemeint ist hier allerdings eher der englische Begriff Evidence der synomym für Nachweisbarkeit und (wissenschaftliche) Belegbarkeit steht. Die grundlegenden philosophischen Auseinandersetzungen mit dem Wissenschaftsbegriff in diesem Jahrhundert gehen auf Karl Popper zurück. Nach ihm ist Wissenschaft nicht Gewissheit, auch nicht Suche nach Gewissheit. Die wissenschaftliche Erkenntnis besteht vielmehr in der permanenten Suche nach objektiv wahren, erklärenden Theorien. Diese Suche besteht darin, den Fehler, den Irrtum zu bekämpfen und alles zu tun, um Unwahrheiten zu entdecken und auszuschließen. Ausgehend von der sokratischen Einsicht in unser Nichtwissen hat er seine Fehlbarkeitslehre begründet. Statt von Wissen im Sinne von Gewissheit redet er von Vermutungswissen oder Theorien. Manche Theorien können wahr sein, aber auch wenn sie wahr sind, so können wir das niemals sicher wissen, weil es kein objektives Kriterium der Wahrheit gibt. Es gibt aber ein Kriterium des wissenschaftlichen Fortschritts, nämlich die Bereitschaft zur ständigen kritischen Überprüfung und gegebenenfalls Verwerfung der Hypothesen. Der ständige Zweifel, der zu immer neuen Versuchen der Falsifikation führt, ist somit einer der wesentlichen Motoren für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. Wissenschaftlicher Fortschritt entsteht durch die Bemühung, immer feinere Siebe der Falsifikation zu konstruieren und dadurch zu immer richtigeren Aussagen über unsere Welt zu gelangen. Die Theorien von Popper über den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn sind auch auf die Medizin anwendbar. Wenn selbst für die exakte Naturwissenschaft gilt, dass alles Wissen nur Vermutungswissen ist Popper hat dies oft mit der Ablösung des Newtonschen Weltbildes durch Einsteins Theorien belegt , dann gilt dies für die Medizin um so mehr. Uns fallen leicht Beispiele von vermeintlich gesichertem Wissen in der Medizin ein, das durch wissenschaftlichen Fortschritt, durch neue Methoden oder einfach durch eine vorurteilsfreie Überprüfung widerlegt wurde. Erst relativ spät in der Wissenschaftsgeschichte wurden Zweifel und Falsifikation als Methoden des Erkenntnisgewinns erkannt und genutzt. Aristoteles‘ Behauptung, dass die Frau weniger Zähne als der Mann habe, war fast zwei Jahrtausende lang gültig, weil man der berühmten Autorität glaubte und nicht zweifelte. Folglich zählte man die Zähne gar nicht erst nach. Mit dem Zählen allein ist es allerdings nicht getan. Für die Methode des Zweifels müssen zunächst überprüfbare, also widerlegbare Hypothesen entwickelt werden, etwa die Hypothese „Mann und Frau unterscheiden sich nicht in der Zahl ihrer Zähne“. Eine solche Hypothese, in diesem Falle wäre es eine sogenannte Nullhypothese, ist gegebenenfalls leicht widerlegbar. Da die Hypothese nicht falsifiziert ist, muss akzeptiert werden, dass diesbezüglich kein Unterschied zwischen den Geschlechtern besteht. Auch für viele andere Bereiche in der Medizin gilt, dass zunächst widerlegbare Hypothesen erstellt werden müssen, meistens auf der Basis von messbaren Daten. Diese Hypothesen sind wissenschaftlich überprüfbar, nämlich falsifizierbar. Dagegen ist die Aussage: „Ich habe erlebt, dass dieses Medikament hilft, dass es also wirksam ist,“ nicht widerlegbar. Eine solche Aussage ist deshalb ohne wissenschaftliche Tiefe, und eine daraus abgeleitete Verallgemeinerung ist unwissenschaftlich. Unbestreitbar hat die Naturwissenschaft Wesentliches zum Fortschritt der Medizin beigetragen. Die medizinische Wissenschaft ist aber mehr als Naturwissenschaft. Sie ist nach einer Definition von Klaus Dietrich Bock „eine Anwendungs- und Handlungswissenschaft, die Methoden und Theorien anderer Wissenschaften, der Chemie, der Physik, der Biologie, der Psychologie und der Sozialwissenschaften unter dem Gesichtspunkt ihrer Brauchbarkeit für die Erkennung, Behandlung und Vorbeugung von Krankheiten auswählt, modifiziert und empirisch Regeln für die Anwendung in Forschung und Praxis der Medizin erarbeitet.“ Für alle diese Teilaspekte gelten aber die Kriterien der Wissenschaftlichkeit, wie sie von Popper erarbeitet wurden. Zur Beurteilung der Relevanz einer Studie/Zeitschriftenartikels ist entscheidend ob diese sich auf systematische Übersicht/Metaanalyse von qualitativ hochwertigen Studien stützt, ob es sich um Ergebnisse handelt, die von anderen Untersuchern reproduziert werden konnten, ob es sich um eine qualitativ hochwertige randomisierte kontrollierte Studie handelte, bei der die Zuordnung zur Plazebogruppe und zur Kontrollgruppe auch den Untersuchern nicht bekannt war (Doppel- Blindstudie), ob eine Intention-to-treat Analyse voraus ging, ob mindestens 80% der Studienteilnehmer im Follow-up enthalten waren, ob sich daraus, Entscheidungskriterien für zukünftige Behandlungen oder für die Diagnostik ergeben, ob genügend Probanden an der Studie teilnahmen um ein verwertbares Ergebnis zu liefern, ob die Auswahl der Patienten sich im klinischen Alltag wieder findet, ob alle Daten veröffentlicht wurden. Bei neuen Medikamenten sollte eine Studie im Vergleich zu Standardpräparaten der selben Indikation vorliegen. Zu bedenken ist immer, dass bei neuen Medikamenten oder Operationsverfahren oft die Nebenwirkungen noch nicht ausreichend bekannt sein können. Oft sind die Zulassungsstudien für Medikamente zu kurzzeitig um eine Beurteilung über die Nebenwirkungen möglich zu machen. Bedauerlicherweis sind die meisten Studien immer noch von der Pharmaindustrie initiiert oder finanziert, mehr unabhängige Studien zur Wirksamkeit von Medikamenten wie auch anderen Therapieverfahren sind dringlich erforderlich. Gelder hierfür fehlen überall, auch nicht von der Industrie geförderte Studien haben oft Eigeninteressen als Hintergrund, die bei der Beurteilung ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Eine Offenlegung konkurierender Interessen ist für die Beurteilung besonders wichtig. Es ist allerdings auch die Gefahr vorhanden, dass evidenz basierte Medizin eine Art fundamentalistisches Dogma unserer Zeit wird, das den individuellen Patienten mit seinen nicht genormten Symptomen und seiner Multimorbidität zu kurz kommen lässt. Vieles was lange als Dogma in der Medizin galt, ist heute überholt. Manche Standardbehandlung früherer Jahre hat mehr geschadet als genützt. Dass wir dies wissen, ist das Ergebnis der evidenz basierte Medizin. Allerdings wäre es vermessen zu glauben, dass die Evidenz von heute nicht morgen ebenso überholt sein könnte. Fallberichte sind gegenüber Studien wertlos geworden, damit ist auch ein Teil der Individualität der Patienten in Vergessenheit geraten, dies trifft besonders für die psychiatrische Behandlung zu. Neuerungen werden in die Medizin nur von mutigen Menschen gebracht, die dann wenn die bisherige Evidenz nicht ausreicht, nach neuen Wegen für den einzelnen Patienten suchen.
Die Anwendung von evidenzbasierter Medizin erfolgt in vier Schritten: |
1.Formulierung einer beantwortbaren klinischen Frage |
2.Suche nach der besten Evidenz |
3.Kritische Bewertung der Evidenz |
4.Praktische Anwendung der Information |
Der aufwendigste Schritt dieser Folge ist die Suche nach der besten Evidenz. Er erfordert eine kritische Sichtung der Literatur nach festgelegten Regeln. Als Ergebnis der Auswertungen wird die Qualität einer Maßnahme mit I bis III beurteilt. |
I Evidenz aufgrund mindestens einer adäquat randomisierten kontrollierten Studie |
II-1 Evidenz aufgrund einer kontrollierten nicht randomisierten Studie mit adäquatem Design |
II-2 Evidenz aufgrund von Kohortenstudien oder Fall-Kontrollstudien mit adäquatem Design |
II-3 Evidenz aufgrund von Vergleichsstudien, die Populationen in verschiedenen Zeitabschnitten, an verschiedenen Orten mit oder ohne Intervention vergleichen |
III Meinungen von respektierten Experten, gemäß klinischer Erfahrung, beschreibender Studien oder Berichten von Experten |
Ob eine Intervention zu empfehlen ist oder nicht, wird mit A bis E klassifiziert : |
A Gute Evidenz, eine Maßnahme zu empfehlen |
B Ausreichende Evidenz, eine Maßnahme zu empfehlen |
C Ungenügende Evidenz, eine Maßnahme zu empfehlen oder nicht zu empfehlen. Aufgrund bestimmter Gegebenheiten kann eine Maßnahme gerechtfertigt sein. |
D Ausreichende Evidenz, eine Maßnahme nicht zu empfehlen |
E Gute Evidenz, eine Maßnahme nicht zu empfehlen |
Problem evidenzbasierter Medizin bei begrenzter Studienlage „absence of evidence is not the same as evidence of absence“ |
Quellen / Literatur:
Johannes Köbberling Wissenschaft verpflichtet Eröffnungsvortrag des Vorsitzenden des 103. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, Wiesbaden, 6. April 1997 „It is agreed that a degree of professional consensus is necessary. However, too great an emphasis on evidence-based medicine oversimplifies the complex and interpersonal nature of clinical care“ D. D. R. WILLIAMS and JANE GARNER, Br J Psychiatry 2002 180: 8-12. Abstract] [Full Text] Evidence-Based Medicine Tips Tips for teachers of evidence-based medicine [207 KB PDF] Tips for learners of evidence-based medicine: 1. Relative risk reduction, absolute risk reduction and number needed to treat |FULL ARTICLECMAJ • August 17, 2004; 171 (4)