Flynn Effekt

(nach James Flynn, Erstbeschreiber 1987). Nach Untersuchungen steigt der IQ – um 27 Punkte in Großbritannien seit 1942, um 24 Punkte in den USA seit 1918, um 22 Punkte seit 1964 in Argentinien ähnlich in allen anderen Ländern der Welt in denen dies untersucht wurde. Die Deutschen etwa verbesserten sich von 1954 bis 1981 um 17 Punkte. Die 1982 durchgetestete Truppe holländischer Rekruten schlug die Jahrgänge ihrer Väter um glatte 20 IQ-Punkte – wobei 30 Punkte weniger einen normal Begabten bereits an den Rand des Schwachsinns befördern (IQ von 100 gilt als Durchschnitt, ab 70 beginnt die medizinische Definition einer Intelligenzminderung von Krankheitswert). Dies, wenn man die selben Testfragen von damals heute stellt. Das Durchschnittskind von heute scheint so intelligent wie ein Genie von damals, kommentiert Newsweek am 23.4.01. Adoptionsstudien zeigen, dass der IQ zu 75% vererbt ist. Die Gene können sich nicht so schnell ändern. Dennoch erklären die Gene immer noch den größeren Teil der Unterschiede zwischen Menschen. Dennoch muss an dem Zuwachs die Umwelt den Löwenanteil haben. Man nimmt an, dass die Intelligenz- Gene den Kinder zu mehr Spaß an der Schule, Büchern und Puzzles bringen. Solche Kinder stellen mehr Fragen, und denken abstrakter. Ein höherer IQ drängt einen zu einer dafür günstigeren Umgebung, was wiederum eine Steigerung des IQ bewirkt. Die Wechselwirkungen zwischen Genen und Umwelt beginnen früh. Ein verbal intelligenteres Kind wird seine Eltern früh eher dazu drängen, ihm mehr vorzulesen. Dies verbessert seine verbalen Fähigkeiten, sogar wenn seine Anlagen nur ein bisschen besser sind als bei den anderen Kindern. Ein kleiner genetischer Vorteil kann so zu einer wesentlich besseren Leistung werden. Wenn am Start ein kleines Defizit des IQ vorliegt, kann dies (auch durch den Vergleich) zu Frustrationen führen, man mag dann Lesen und Nachdenken einfach weniger. In der Schule wird man dann vielleicht das Lernen hassen. Dies kann wiederum dazu führen, dass der Unterschied der Gene verstärkt wird. Soweit bekannt, ist der Umgebungs- (oder Bildungs-) Effekt bei allen Graduierungen der Intelligenz ähnlich groß. Vorausgesetzt, auch die weniger oder durchschnittlich Intelligenten suchen die selbe stimulierende Umgebung. Unsere Umwelt ist für Kinder heute in vieler Hinsicht stimulierender als sie dies früher war. Das kleine Denkspiel in der Cornflakes- Packung, die frühe Konfrontation mit dem unüberschaubaren Angebot der Massenmedien könnte hier durchaus einen wesentlichen positiven Effekt haben. Gameboys, Computer und Videospiele könnten durch ihre Herausforderungen durchaus zu dem gemessenen Zuwachs der letzten Jahre beigetragen haben. Kleinere Familien bieten jedem ihrer Kinder mehr Aufmerksamkeit, bieten mehr Möglichkeiten auf die Fragen der Kinder einzugehen. Unsere Arbeitsstellen erfordern (zumindest durchschnittlich) wesentlich mehr geistige Leistung und bieten mehr intellektuelle Stimulation als dies früher der Fall war. Auch unsere Freizeit ist intellektuell anspruchsvoller geworden. Wesentlich für den „Schub“ für die Intelligenz ist, nicht die Frühförderung für 3×2 Stunden in der Woche, sondern das Angebot einer dauerhaft unterstützenden und stimulierenden Umgebung. Auch weniger begabte Kinder aus benachteiligten Elternhäusern profitieren, wenn sie in gefördert werden. Doch wenn das Förderprogramm endet, geht der Intelligenzquotient allmählich wieder zurück. Dickens und Flynn können dies mit ihrer Theorie gut erklären: Anders als traditionelle Förderstrategen glauben sie nicht, dass sich die Intelligenz ein für allemal in die Höhe treiben lässt. Sie steigt nur, solange die Kinder anspruchsvolleren Betätigungen nachgehen, als sie oder ihre Familien ansonsten verrichten würden. Der Rückschlag nach dem Ende der Förderung ließe sich jedoch vermeiden. Man müsste den Kindern rechtzeitig beibringen, sich auch dann noch geistig zu fordern, wenn sie wieder auf sich gestellt sind, empfehlen die beiden Forscher. Selbst die 18 Jahre elterlichen Einflusses verblassen rasch wenn die Umgebung danach nicht stimmt. Gene sind also für den Löwenanteil der Intelligenz verantwortlich, die Umgebung bleibt entscheidend, um diese Möglichkeiten nutzen zu können. Unsere Veranlagung bringt uns aber auch automatisch dazu unsere Umgebung nach unseren Bedürfnissen zu verbessern. Der Flynn- Effekt zeigt also, dass unsere Intelligenz durch eine passende Umgebung erheblich verbessert werden kann. Begabtere Kinder suchen oder schaffen sich eine förderliche Umgebung, – der so genannte Multiplikationseffekt, weniger begabten muss man dabei helfen. Begabung, Leistung und Lernen stehen also in einer Wechselbeziehung zu einander. Der Mensch ist in erheblichem Maße geprägt von angeborenen Merkmalen und Fähigkeiten. Der genetische Faktor spielt eine große Rolle bei körperlichen Merkmalen, er ist aber auch ein maßgeblicher Faktor bei Persönlichkeitsmerkmalen und intellektuellen Fähigkeiten. Menschliches Handeln und Erleben sind damit bei Weitem nicht ausschließlich exogen bzw. soziogen bzw. milieubedingt, also nicht ausschließlich erlernt oder „anerzogen“. Weder Aspekte der Anlage und der genetischen Disposition noch Aspekte der Umwelt und der individuellen Soziogenese können allein die Unterschiede in der kognitiven Entwicklung aufhellen. Anlage und Umwelt wirken – quasi „synergetisch“ – zusammen. Bildhaft ausgedrückt: Bildung und Begabung verhalten sich zueinander wie Boden und Klima; der beste Boden bringt keine reiche Ernte, wenn das Klima ungünstig ist, und das beste Klima lässt nicht üppig Früchte tragen, wenn der Boden es nicht hergibt. Die Frage, mit welchen Anteilen die Faktoren Anlage und Umwelt jeweils zu Buche schlagen, wurde über Jahrzehnte hinweg zuverlässig – vor allem mittels Zwillingsforschung – beantwortet: Ein erheblicher Teil der Intelligenz geht auf Begabung, auf Anlage und damit auf den genetischen Beitrag zurück. Den anderen Teil macht das Milieu als exogener Faktor aus. Dieser Teil begründet die Beschreibung des Menschen als erziehungs- und lernbedürftiges Mängelwesen. Des Weiteren spielt ein interindividuell sehr unterschiedlich ausgeprägter, sog. autogener Faktor eine große Rolle, nämlich die Art des ganz persönlichen Umgangs eines Individuums mit den ihm vorgegebenen Milieufaktoren. Es gibt naturgegebene Unterschiede in der Lernfähigkeit. Die Schule und die Gesellschaft werten nicht Begabung, sondern realisierte Leistung. Sozialverhalten, Charme, persönliches Engagement, Lernwille, Fleiß, Disziplin oder praktische/motorische Kreativität gehen in Leistungsbewertung ein, nicht allein kognitive, intellektuelle Fähigkeiten. Nicht vergessen sollte man immer auch den Faktor Zufall. Begabung bleibt daher eine wesentliche Voraussetzung für unterschiedliche Leistungen, ist aber eben nur eine ihrer Voraussetzungen.

 

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur