Intelligenzminderung

Intelligenzminderung setzt nach aktuellen Definitionen (ICD-10, DSM-IV, ICF) einen verminderten Intelligenzquotienten, ein daraus resultierendes verändertes Anpassungsverhalten im Alltag und einen Beginn vor dem 18. Lebensjahr voraus. Gene und Umwelt tragen zu einer großen Zahl von verschiedenen Störungen und Syndromen bei, die eine Intelligenzminderung und Lernbehinderung verursachen können. Manche der erblichen Erkrankungen haben eine 100%ige Penetranz, so dass alle mit dem Gen behafteten davon betroffen sind, aber sogar bei diesen Erkrankungen ist das Ausmaß der Beeinträchtigung und das allgemeine klinische Bild von Umweltfaktoren abhängig. Bei manchen Syndromen spielen besonders die Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Genen in der frühen Entwicklung eine entscheidende Rolle. Verschiedenste Schädigungen des Ungeborenen durch toxische Substanzen oder auch beispielsweise Infekte der Schwangeren können sich negativ auf die Intelligenz auswirken. So hatten norwegische Rekruten, die 6-9 Monate nach der schweren Hongkong-Grippe 1969/70 geboren wurden, bei der Musterungsuntersuchung einen niedrigeren Intelligenzquotienten als die Jahrgänge danach. Annals of Neurology (2009; doi: 10.1002/ana.21702).

Manche Syndrome sind bei rechtzeitiger Erkennung sogar durch eine bestimmte Diät zu verhindern. Manche Erkrankungen (z. B. Schilddrüsenunterfunktion, Vitaminmangel, Infekte, Hypoparathyroidismus, Epilepsien,….) sind gut behandelbar und die medizinische Behandlung kann die Entwicklung normalisieren. Hörstörungen können mit Lernbehinderungen verwechselt werden, kommen aber auch bei Lernbehinderten 40x häufiger vor. Bei anderen Syndromen ist es für Eltern und das Kind wichtig, die Prognose abschätzen zu können und auch zu wissen, ob es spezielle Fördermöglichkeiten gibt. Selbsthilfegruppen können bei der Bewältigung des Alltags und bei der Akzeptanz einer Behinderung eine große Hilfe sein. Im Verdachtsfall, dass eine Lernbehinderung oder Entwicklungsverzögerung vorliegt, ist deshalb immer eine ärztliche Untersuchung erforderlich.

Gemäss ICD-10 wird unter einer Intelligenzminderung eine sich in der Entwicklung manifestierende, stehengebliebene oder unvollständige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten verstanden, wobei besondere Beeinträchtigungen von Fertigkeiten vorliegen, die zum Intelligenzniveau beitragen, wie z.B. Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten. Ferner liegt stets eine Beeinträchtigung des Anpassungsverhaltens vor. Die Lernbehinderung wird nicht als separate psychiatrische Kategorie der ICD-10 geführt. Sie ist gemäss internationaler Terminologie als grenzwertige Intelligenz im Bereich von IQ 85-70 definiert. Für die Intelligenzminderung (Geistige Behinderung) ist neben dem verminderten Intelligenzniveau die erschwerte Anpassung an die Anforderungen des alltäglichen Lebens bedeutsam. Dies gilt in geringerem Ausmass auch für die Lernbehinderung. Personen mit Intelligenzminderungen sind nach Schweregrad in ihrer Unabhängigkeit in der Selbstversorgung, im Erlernen schulischer und beruflicher Fertigkeiten, in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung aufgrund von Lernschwierigkeiten beeinträchtigt. Medizinische Komorbidität und die Prävalenzrate für psychiatrische Störungen sind mindestens 3-4mal so hoch wie in der allgemeinen Bevölkerung. Von einer geistigen Behinderung sind etwa 2–3 % der Bevölkerung oder 1,6–2,4 Millionen Menschen in der Bundesrepublik betroffen.

Schweregradeinteilung Leichte Intelligenzminderung (F 70) Der IQ-Bereich liegt zwischen 50 – 69. Die Personen erwerben Sprache verzögert, jedoch in einem Umfang, daß eine alltägliche Konversation normal gelingt. Die meisten erlangen eine volle Unabhängigkeit in der Selbstversorgung (Essen, Waschen, Ankleiden, Darm- und Blasenkontrolle und in praktischen und häuslichen Tätigkeiten bei allerdings verlangsamter Entwicklung). Schwierigkeiten treten beim Erlernen schulischer Fertigkeiten, insbesondere beim Erlernen des Lesens und der schriftsprachlichen Äußerungen auf. Die meisten sind für eine Arbeit anlernbar, die praktische Fähigkeiten und angelernte Handarbeit verlangt. Eine emotionale und soziale Unreife kann bestehen, so daß sie u.U. eigenständig den Anforderungen einer Ehe oder Kindererziehung nicht nachkommen können. Mittelgradige Intelligenzminderung (F 71) Der IQ liegt gewöhnlich im Bereich zwischen 35 und 49. Die Leistungsprofile können sehr unterschiedlichsein. Das Ausmaß der Sprachentwicklung reicht von der Fähigkeit, an einfachen Unterhaltungen teilzunehmen bis zu einem Sprachgebrauch, der lediglich für die Mitteilung der Grundbedürfnisse ausreicht; einige lernen niemals sprechen, verstehen einfache Anweisungen; andere lernen Handzeichen. Die Fähigkeiten zur Selbstversorgung entwickeln sich verzögert, einige Personen benötigen lebenslange Beaufsichtigung. Schulisch lernen einige grundlegende Fertigkeiten im Lesen, Schreiben und Zählen. Als Erwachsene sind sie in der Lage, einfache praktische Tätigkeiten zu verrichten, wenn die Aufgaben einfach, gut strukturiert sind und eine Beaufsichtigung besteht. Ein völlig unabhängiges Leben im Erwachsenenalter wird selten erreicht. Die Betroffenen sind in der Regel körperlich voll beweglich und aktiv, fähig, Kontakte zu pflegen, sich zu verständigen und einfache soziale Leistungen zu bewältigen. Schwere Intelligenzminderung (F 72) Die Störung ähnelt hinsichtlich des klinischen Bildes dem unteren Leistungsbereich der mittelgradigen Intelligenzminderung. Die meisten Personen mit schwerer Intelligenzminderung haben ausgeprägte motorische Beeinträchtigungen. Der IQ liegt gewöhnlich im Bereich zwischen 20-34. Schwerste Intelligenzminderung (F 73) Der IQ wird auf unter 20 eingeschätzt. Dies bedeutet, dass die betroffenen Personen unfähig sind, Aufforderungen oder Anweisungen zu verstehen oder sich danach zu richten. Meistens sind sie immobil oder sehr bewegungseingeschränkt, inkontinent und auch non-verbal nur zu sehr begrenzter Kommunikation fähig. Sie können weniger oder gar nicht für ihre Grundbedürfnisse sorgen und benötigen ständige Hilfe und Überwachung. Sprachlich verstehen die Betroffenen im günstigsten Fall grundlegende Anweisungen und können bestenfalls einfache Forderungen formulieren. Einfachste visuell-räumliche Fertigkeiten wie Sortieren und Zuordnen können erworben werden; mit Beaufsichtigung und Anleitung können sie in geringem Maße an häuslichen und praktischen Aufgaben beteiligt werden.

Definition des DSM III der Geistige Behinderung: „Hauptmerkmale dieser Störung sind: (1) deutlich unterdurchschnittliche allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit (ein IQ von höchstens 70) bei (2) gleichzeitig gestörter oder eingeschränkter Anpassungsfähigkeit (Erfüllung sozialer Normen, die sein soziales Umfeld für Personen seines Alters erwartet), und (3) Beginn vor Vollendung des 18. Lebensjahres. Der Verlauf einer geistigen Behinderung ist sowohl abhängig von einer zugrunde liegenden verursachenden Erkrankung als auch von Umweltfaktoren, wie zum Beispiel der Erziehung und anderer Bildungsmöglichkeiten, Stimulation durch die Umwelt und dem geeigneten Umgang mit der Störung selbst. Die Prognose der geistigen Behinderung hat sich in den letzten Jahren enorm verbessert. Die meisten geistig behinderten Menschen fügen sich heute im Rahmen ihrer Möglichkeiten gut in das soziale Leben ein. In diesen Fällen kann die Diagnose einer geistigen Behinderung nicht länger gerechtfertigt sein“.

Von einer Lernbehinderung spricht man bei einem IQ von 70 bis 89, der Begriff wird aber im ICD 10 nicht mehr verwendet, stattdessen kann werden solche Störungen unter „F81.9 nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ klassifiziert. Leichte Intelligenzminderung machen ca. 80 % der Menschen mit Intelligenzminderung aus, Mittelgradige Intelligenzminderungen ca. 12 %, Schwere Intelligenzminderungen ca. 7 %, Schwerste Intelligenzminderung < 1 %.

Geistige Behinderung ist keine definierte Krankheit, üblicherweise versteht man darunter Menschen, die in ihrer Lernfähigkeit deutlich hinter den auf das Lebensalter bezogenen Erwartungen zurückbleiben, meist sind in unterschiedlichem Ausmaß gleichzeitig sprachliche, emotionale und motorischen Fähigkeiten beeinträchtigt. Viele geistig Behinderte Menschen bedürfen dauerhaft pädagogischer und manchmal auch psychologischer oder psychiatrischer Unterstützung. Bei schwerster geistiger Behinderung können Kontaktfähigkeit, Mobilität, Kontinenz und Selbstständigkeit soweit beeinträchtigt sein, dass Pflegebedürftigkeit vorliegt. Bis vor Jahrzehnten war die Lebenserwartung für viele Menschen mit schwerer Lernbehinderung durch mangelnde medizinische Betreuung, aber oft auch durch Vernachlässigung erheblich reduziert. Insbesondere Menschen, die selten mit Lernbehinderten zu tun haben, haben häufig Vorurteile und lassen in Kommunikationen den erforderlichen Respekt vermissen. Sinnvolle Kommunikation setzt auch hier zunächst Einfühlung in die schwierige Situation des Betroffenen voraus. Die Behandlung von Verhaltenstörungen bei Lernbehinderten mit Medikamenten ist nach Studien wenig effektiv. Regelmäßiger Sport der auch die körperlichen Möglichkeiten der Betroffenen ausschöpft und zu körperlicher Müdigkeit führt ist auch langfristig effektiver als Medikamente. Hinzukommt, dass viele Psychopharmaka zu Gewichtszunahmen und Einschränkungen der Lernfähigkeit führen können. Medikamente sollten deshalb auf das notwendigste und kurze Zeiträume begrenzt werden. Bei Hypersexualität, Gewalttätigkeit und depressiven Verstimmungen ist aber oft eine Behandlung erforderlich. Bei Menschen mit Lernbehinderungen sind auch psychotische Störungen einschlich Schizophrenien häufiger, auch diese bedürfen selbstverständlich einer üblichen antipsychotischen Behandlung. Menschen mit mangelhaften verbalen Fähigkeiten werden häufiger straffällig und stellen einen überpoportionalen Anteil der Gefängnisinsassen, sie werden aber auch häufiger Opfer von Straftaten. Medikamente, die die Lernbehinderung eindeutig verbessern gibt es bisher nicht. Manche Autoren behaupten, dass Nootropika einen solchen Effekt haben. Bei Kindern mit ADS kann eine entsprechende Medikation durchaus Verbesserungen erbringen.

Grad der Behinderung im Schwerbehindertenrecht aus den
„Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ (1996)

Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit mit einem Intelligenzrückstand entsprechend einem I.A. von etwa 10 bis 12 Jahren bei Erwachsenen (I.Q. von etwa 70 bis 60) GdB
  • wenn während des Schulbesuchs nur geringe Störungen, insbesondere der Auffassung, der Merkfähigkeit, der psychischen Belastbarkeit, der sozialen Einordnung, des Sprechens, der Sprache, oder anderer kognitiver Teilleistungen vorliegen,

    oder
    wenn sich nach Abschluß der Schule noch eine weitere Bildungsfähigkeit gezeigt hat und keine wesentlichen, die soziale Einordnung erschwerenden Persönlichkeitsstörungen bestehen,
    oder
    wenn ein Ausbildungsberuf unter Nutzung der Sonderregelungen für Behinderte er reicht werden kann

30-40
  • wenn während des Schulbesuchs die oben genannten Störungen stark ausgeprägt sind oder mit einem Schulversagen zu rechnen ist,
    oder

    wenn nach Abschluß der Schule auf eine Beeinträchtigung der Fähigkeit zu selbständiger Lebensführung oder sozialer Einordnung geschlossen werden kann,
    oder wenn der Behinderte wegen seiner Behinderung trotz beruflicher Fördermöglichkeiten (z. B. in besonderen Rehabilitationseinrichtungen) nicht in der Lage ist, sich auch unter Nutzung der Sonderregelungen für Behinderte beruflich zu qualifizieren

50-70

Schwerer Intelligenzmangel mit stark eingeengter Bildungsfähigkeit, erheblichen Mängeln im Spracherwerb, Intelligenzrückstand entsprechend einem I.A. unter 10 Jahren bei Erwachsenen (I.Q. unter 60) GdB
  • bei relativ günstiger Persönlichkeitsentwicklung und sozialer Anpassungsmöglichkeit (Teilerfolg in einer Sonderschule, selbständige Lebensführung in einigen Teilbereichen und Einordnung im allgemeinen Erwerbsleben mit einfachen motorischen Fertigkeiten noch möglich)
80-90
  • bei stärkerer Einschränkung der Eingliederungsmöglichkeiten mit hochgradigem Mangel an Selbständigkeit und Bildungsfähigkeit, fehlender Sprachentwicklung, unabhängig von der Arbeitsmarktlage und auf Dauer Beschäftigungsmöglichkeit nur in einer Werkstatt für Behinderte
100

Sozialmedizinische Beurteilung Empfehlung der DRV Oktober 2001: Aus sozialmedizinischer Sicht kann bei adäquater Förderung die zeitlich uneingeschränkte Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bei einer leichten Intelligenzminderung erreicht werden. Bei zunehmenden Anforderungen des Arbeitsmarktes an die Abstraktionsfähigkeit und die Flexibilität wird es aber häufiger auch schon bei der leichten Intelligenzminderung zu einer Ausgliederung aus dem ersten Arbeitsmarkt kommen. Das Konzept des Vorerwerbsschadens, nach dem nur jene Veränderungen der Leistungsfähigkeit versichert sind, die nach Eintritt in das Erwerbsleben aufgetreten sind, kommt bei diesem Personenkreis nicht zur Anwendung. Als weitere Besonderheit ist zu erwähnen, dass Versicherte, die mehr als 240 Monate in Werkstätten für Behinderte gewesen tätig sind, ohne gesonderte medizinische Prüfung Anspruch auf eine volle Erwerbsminderungsrente haben.

Sinn und Unsinn in der Medikamentösen Behandlung von Aggressionen bei geistiger Behinderung.

Menschen mit geistigen Behinderungen haben meist auch schlechtere Fähigkeiten mit Stress oder Konflikten umzugehen. Nicht selten kommt es deshalb zu aggressiven Durchbrüchen. Je nach Definition ist die bei 16% bis zu deutlich über der Hälfte der Behinderten der Fall. Häufig werden diese Aggressionen mit Antipsychotika (Neuroleptika) behandelt. Zwischen 22% und 45% der Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderungen werden in Krankenhäusern neuroleptisch behandelt. Etwa 20% erhalten wenn sie zuhause leben solche Medikamente. Man geht davon aus, dass nur etwa jeder 7. Mensch mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderungen an einer definierten psychischen Störung wie beispielsweise einer Schizophrenie leidet, ein großer Teil wird also ohne hinreichende Diagnose nur wegen der aggressiven Verhaltensauffälligkeit antipsychotisch behandelt. In einer neuen randomisierten Studie wurde die Wirksamkeit der Antispsychotika in der Behandlung von aggressiven Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderungen untersucht. Die Medikamente wurden subjektiv gut vertragen und geprüft regelmäßig eingenommen. Bei den Behinderten in der Placebogruppe wurde mit 79% das stärkste Nachlassen der Aggressivität festgestellt, bei Risperidon waren es 58% bei Haloperidol 65%. Im Ergebnis dieser Studie sind Antipsychotika (Neuroleptika) nicht geeignet Aggressionen bei Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderungen zu bessern. Angesichts eines langfristig hohen Nebenwirkungsrisikos sind sie nur zu rechtfertigen, wenn eine psychiatrische Diagnose vorliegt, bei der solche Medikamente auch bei nicht behinderten verordnungsfähig sind. Peter Tyrer et al., Lancet 2008; 371: 57–63

 

Quellen / Literatur:

Christopher Gillberg, Henrik Soderstrom Learning disability Lancet 2003; 362: 811-21 [Summary] [Full Text] [PDF]

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur