Als „Multiple Chemical Sensitivity“ (MCS) wird ein umstrittenes Syndrom bezeichnet, das durch sehr unterschiedliche, teils subjektiv schwerwiegende Symptome gekennzeichnet ist. Diese Symptome sollen durch Umweltchemikalien in sehr geringen Dosen verursacht werden. Kennzeichnend für das Syndrom ist, dass diese weit unterhalb der eigentlich für Menschen schädlichen Dosen liegen.
Ob es sich tatsächlich um ein einheitliches spezifisches Syndrom mit einem spezifischen Krankheitsmechanismus handelt, ist weiterhin fraglich. Die angeblich zugrunde liegende Ätiologie und die pathogenetischen Prozesse der Störung sind unbekannt und umstritten:
- Eine eindeutige Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen Exposition und Symptomen ist nicht nachweisbar.
- Es sind keine standardisierten medizinischen Tests bekannt, die die vielfältigen multisystemischen Beschwerden von MCS-Patienten nachweisen können.
- Die zugrunde liegenden Ursachen des Syndroms, ob biologisch oder psychologisch, sind nicht vollständig verstanden.
Das Syndrom ist daher nur schwer greifbar und bereits die große Heterogenität der Symptome wirft Zweifel daran auf, ob MCS überhaupt eine einheitliche klinische Entität ist.
Bereits im Jahr 2006 zeigte eine Metaanalyse, dass Patienten, bei denen eine solche Multiple Chemikalien-Sensitivität diagnostiziert worden war, nicht zwischen der Exposition mit einer Chemikalie, auf die sie glaubten sensibel zu sein und einem Placebo unterscheiden konnten (Das-Munshi et al. 2006).
Dass es sich beim MCS tatsächlich um ein durch eine körperliche Reaktion auf Chemikalien ausgelöstes Krankheitsbild handelt, erscheint vor diesem Hintergrund unwahrscheinlich. Eher dürfte es sich um eine heterogene Gruppe aus Patienten mit psychsomatischen Beschwerden, und solchen mit Beschwerden einer anderen körperlichen Ursache handeln.
Es überrascht vor diesem Hintergrund wenig, dass die Multiple Chemikalien-Sensitivität oft mit anderen Krankheiten in Verbindung gebracht wird (oder gar zusammen diagnostiziert wird), für die ebenfalls definitive Diagnosen und Erklärungen fehlen, darunter das Fibromyalgiesyndrom, das Golfkriegssyndrom (GWS), das chronische Müdigkeitssyndrom (CFS) und weitere.
Differentialdiagnosen zum MCS
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über Symptome, die oft dem MCS zugeordnet werden und häufige tatsächliche Ursachen dieser Symptome.
Häufig genannte MCS-Symptome | Woran man zum Beispiel denken sollte |
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Müdigkeit, Leistungsminderung | Sind auch typische Symptome von Infekten (auch HIV; Tuberkulose, Syphilis, Hepatitis…) und Depressionen, Angst-, und Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus oder Schilddrüsenunterfunktion. Kommt aber auch bei Tumoren und vielen weiteren Erkrankungen vor |
Verwirrtheit und Verlust des Kurzzeitgedächtnisses, Vergesslichkeit, Sprachstörungen | Werden häufig angegeben. Wenn sie selbst berichtet werden, sind sie im Gegensatz zur Fremdanamnese oft eher ein Hinweis auf Angst– oder Depressionen als auf tatsächliche Verwirrtheit oder tatsächliche gravierendere Gedächtnisstörungen. Untersuchungen die eindeutige organische Psychosyndrome bei MCS- Kranken nachweisen, sind mir bisher nicht bekannt geworden. Wirkliche Verwirrtheitszustände und Gedächtnisstörungen lassen sich aber, wenn sie vorhanden sind, objektivieren. Dies sollte im Zweifel auch getan werden. Dann muss daraus eine umfassende neurologische Abklärung folgen. Man denke an eine Demenz, Schlaganfall, usw. |
Reizbarkeit, depressive Stimmung, Weinkrämpfe | Sind u.a. typische Symptome von Depressionen, Angststörungen. |
Kopfdruck, Kopfschmerzen | Ursachen und Arten von Kopfschmerzen sind vielfältig. Am häufigsten sind Spannungskopfschmerzen. Kopfschmerzen kommen unter anderem auch bei Infekten, Depressionen, Angststörungen, Schlafstörungen, unzureichender Trinkmenge, u.v.w. vor. Starke und/oder neu aufgetretene Kopfschmerzen sollten neurologisch abgeklärt werden. |
Gefühlsstörungen | Sind mit neurologischer Untersuchung und Messung der Nervenleitgeschwindigkeiten und dem klinischen Befund objektivierbar (z.B.: bei Polyneuropathie). Wenn sie organisch bedingt sind, dann ist eine Abklärung hinsichtlich der Grunderkrankung erforderlich. Wenn kein Befund zu erheben ist und diese Beschwerden intervallartig für kurze Zeiträume auftreten, muss an eine Hyperventilation (bei Aufregung oder Angst) oder auch an andere körperliche Krankheiten bis hin zur Multiplen Sklerose gedacht werden. |
Schleimhautreizungen von Nase und Mund, Luftnot, bronchitische Beschwerden | Sinusitiden (Nebenhöhlenentzündungen) gehören zu den häufigeren übersehenen Diagnosen bei MCS, Asthma und Allergien müssen ausgeschlossen werden. Luftnot ist ein häufiges Angstsymptom. |
Übelkeit, Stuhlunregelmäßigkeiten | Sind ein häufiges Angstsymptom. Funktionelle Magendarmbeschwerden die häufigsten somatoformen Syndrome. Andere Erkrankungen bis zum Hirntumor müssen je nach genauer Symptomatik ausgeschlossen werden. |
Herzrasen (Tachykardie) | Ist ein häufiges Angstsymptom. Aber auch an Schilddrüsenüberfunktion, Herzerkrankungen usw. muss gedacht werden. |
Schwindel | Ist ein häufiges Angstsymptom (ca. 50% der Schwindelsymptome hängen mit Angst zusammen). |
Grippeähnliche Symptome. | Sind unspezifisch, können aber auf eine Vielzahl von Erkrankungen hinweisen. Sie sollten näher objektiviert und abgeklärt werden. |
Verschiedene Hauteffloreszenzen | Alleine Allergien betreffen etwa 40% der Bevölkerung, auch andere Hautauschläge sind häufig. |
Muskel- und Gelenkschmerzen, Muskelschwäche | Kommen neben den rheumatischen Erkrankungen bei Angstkrankheiten, Infekten wie Borreliosen usw. vor. Auch sehr ernsthafte neurologische Krankheiten wie eine ALS können sich dahinter verbergen. |
Geruchsempfindlichkeit, Kakosmie (Störung des Geruchssinns), Nahrungsmittelunverträglichkeiten | Eine Kakosmie (Störung des Geruchssinns) ist bis zum Beweis des Gegenteils verdächtig auf eine neurologische oder HNO-Erkrankung. Neben Allergien gibt es eine Vielzahl anderer Ursachen von Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Geruchsempfindlichkeit ist unspezifisch und kommt bei vielen Krankheiten vor. |
Auch Kombination der Symptome bleibt unspezifisch und trifft für viele Erkrankungen zu.
15 Fakten über die multiple Chemikalien-Sensitivität
- Es gibt keine allgemein akzeptierte klinische Definition.
- Es gibt keinen Konsens zur Pathophysiologie oder Ursache. Erklärungsversuche reichen von unspezifischen immunologischen Störungen, über Enzymdefekte mit Vitamin- und Mineralmangelzuständen bis hin zu spektakulären Hypothesen einer Beeinflussung des hypothalamisch-limbischen Systems durch Geruchs- Reize. Auf dem „immunotoxikologischen“ Erklärungsmodell basieren etliche unwissenschaftliche Entgiftungs- und Substitutionstherapien.
- Es gibt keine nachprüfbaren Befunde. Auch Veränderungen im PET oder SPECT ändern daran nichts, solange sie unspezifisch sind (siehe auch: Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Nuklearmedizin). Sie kommen auch bei allen psychischen Störungen einschließlich nachweislich reaktiv erworbener vor. Bis heute konnte man weder aus allergologischer, immunologischer noch toxikologischer Sicht einen kausalen Bezug zu dem Krankheitsbild herstellen. Es existieren keine spezifischen Untersuchungsmethoden, um das Vorliegen von MCS zu belegen. Insbesondere haben bestimmte Untersuchungsmethoden für MCS keinen diagnostischen Wert (z. B. immunologische Untersuchungen, Biologisches Monitoring, Porphyrie-Tests, Neuroimaging, alternativmedizinische Methoden).
- Die Diagnose stützt sich auf den Ausschluss anderer Ursachen. Erkrankungen, die häufig als MCS fehldiagnostiziert werden, sind z.B. Infektionen (Sinusitis, Atemwegsinfektionen, Mononukleose), Allergien (allerg. Rhinokonjunktivitis, atopisches Ekzem, allerg. Kontaktekzem), metabolisch-toxische (Diabetes mellitus, Medikamenten-/Drogenabusus, Hypo/Hypothyreoidismus) und psychiatrische Erkrankungen.
- Die Diagnose erfolgt bisher nur über angegebene Befindlichkeitsstörungen. Die meisten Wissenschaftler verschiedener Fachdisziplinen, die sich mit dem Krankheitsphänomen auseinandersetzen, sind sich darin einig, dass ein nicht zu vernachlässigender Prozentsatz der „an Umwelteinflüssen erkrankt geglaubten Patienten“ an psychosomatischen bzw. psychiatrischen Krankheiten leidet. Erschwert wird die Aufklärung des MCS-Syndroms durch die Tatsache, dass es sich meist um ausgesprochen subjektive Symptome handelt, die sich mit apparativ gewonnenen physiologischen Parametern nicht objektivieren lassen.
- Generelle Isolierung aus der Umwelt hat nach Berichten der meisten Experten überwiegend nachteilige Effekte.
- Die Diskussion über die Erkrankung wird oft mehr emotional als wissenschaftlich geführt.
- Einschüchterungen von Wissenschaftlern durch Interessenvertreter machen eine Diskussion schwer.
- „Befürworter“ der Diagnose scheinen wenig an einer wissenschaftlich und damit offenen Diskussion interessiert.
- Keine Übereinstimmung über Möglichkeiten der Therapie.
- Viele „Befürworter der Diagnose“ beschäftigen sich bisher überwiegend mit juristischen Fragen, nicht mit medizinischen.
- Es ist nicht möglich, eine Gruppe von Kernsymptomen zu finden, die allen Patienten gemeinsam ist.
- Fraglich ist weiter ob das Syndrom wirklich eine eigene Entität ist, zumal Übergänge zu vielen anderen Syndromen bestehen, die häufig von der selben Ärztegruppe diagnostiziert werden.
- Eine erhöhte Suggestibilität, Neigung zu Dissoziation und Phantasie begünstigt die Entstehung von MCS (Witthöft et al. 2008).
- Je stärker die (irrige) Überzeugung, dass die Symptome durch Umweltgifte zustande kommen und je größer die Ängste, umso schlechter die Prognose (Bailer et al. 2008).