„Prinzip der realen Erfahrung“ Was verändert werden soll, muß in der Therapie real erlebt werden. Oder: „Reden ist Silber, real erfahren ist Gold“. Es gibt eine große Zahl von Hinweisen darauf, daß Probleme am besten in einem Setting behandelt werden können, in dem eben diese Probleme real erfahren werden: Generalisierte zwischenmenschliche Schwierigkeiten in einer Gruppentherapie; Paarprobleme unter Einbeziehung beider Partner; Probleme, an denen Familienangehörige maßgeblich beteiligt sind, unter Einbezug der relevanten Familienmitglieder, Schwierigkeiten in ganz bestimmten Situationen wie Waschzwänge, Platzangst usw. durch Aufsuchen dieser Situationen; usw. Manche Beziehungsprobleme können auch im Rahmen einer Einzeltherapie in der Beziehung zum Therapeuten real erfahren und behandelt werden. Dafür ist der Begriff der Übertragung geprägt worden. Übertragung ist jedoch nur ein Spezialfall eines allgemeineren Prinzips: Die problematischen Bedeutungen, die das Leiden des Patienten ausmachen, können dann am wirksamsten verändert werden, wenn diese Bedeutungen in der Therapie real zum Erleben gebracht werden. Herbeigeführt wird die Veränderung erlebter Bedeutungen durch das reale Erleben von Bedeutungsveränderungen im Therapieprozeß. Die Annahme, daß es für eine erfolgreiche Veränderung darauf ankommt, daß der Patient tatsächlich erlebt, worum es geht, stellt ein zentrales Element fast aller therapeutischen Konzeptionen dar. Große Unterschiede bestehen nur darin, wie sie diese Prozeßerfahrung herbeizuführen versuchen. Wenn sich in der psychoanalytischen Therapie beim Patienten eine Übertragungsneurose entwickeln soll, um sie dann durcharbeiten zu können, dann heißt dies nichts anderes, als daß die als zentral angenommenen Problemstrukturen zum Erleben gebracht und dann durch das reale Erleben veränderter Bedeutungen in der Therapiebeziehung dauerhaft verändert werden sollen. In der Gestalttherapie sind eine ganze Reihe von Techniken entwickelt worden, die das reale Erleben problematischer Bedeutungen über den verbalen Dialog hinaus fördern sollen. Im Experiencing-Konzept von Gendlin (1961) wird die therapeutische Fruchtbarkeit des Dialogs zwischen Patient und Therapeut explizit danach bemessen, inwieweit der Patient die verbal behandelten Bedeutungen in diesem Moment gefühlsmäßig tatsächlich erlebt. Das Psychodrama ist ganz hauptsächlich darauf ausgerichtet, problematische Beziehungskonstellationen erlebnismäßig zu reaktualisieren. In Familien- und Paartherapien werden durch die reale Anwesenheit der relevanten Bezugspersonen und durch die gezielte Provokation der problematischen Beziehungsabläufe die problemrelevanten Beziehungsschemata der Beteiligten aktiviert und zum realen Erleben gebracht. Indem ein Therapeut mit einem Agoraphobiker das Menschengedränge in einem Kaufhaus aufsucht, bringt er die problemrelevanten Bedeutungen „Ich kann das nicht, ich halt das nicht aus, ich muß hier raus“ zum vollen Erleben. All dies sind Inszenierungen für das reale Erleben problemrelevanter Bedeutungen mit dem Ziel, den Patienten neue, veränderte Bedeutungen real erleben zu lassen: Davon, vom realen Erleben veränderter Bedeutungen, erwarten die meisten Therapiekonzeptionen in erster Linie das Eintreten therapeutischer Wirkungen. Die Ergebnisse der Therapieforschung unterstützen diese Wirkannahme, aber sie zeigen, daß es viel mehr Möglichkeiten zur Herbeiführung solcher Erfahrungen gibt, als innerhalb der einzelnen Therapieformen wahrgenommen werden. Liegt es nicht nahe anzunehmen, daß ein bestimmtes Problem auf ganz verschiedene Arten real erfahrbar gemacht werden kann und daß für verschiedene Arten von Problemen und Patienten bestimmte Arten solcher Problemaktualisierungen nützlicher sind als andere? Und wäre dann nicht zu fordern, daß ein Therapeut möglichst ganz verschiedene Arten der Problemaktualisierung beherrschen lernen sollte, damit er sie möglichst gut auf die Problemeigenarten und die situativen Bedingungen des einzelnen Patienten zuschneiden kann? Auch unter dem Gesichtspunkt der Problemaktualisierung erweisen sich die Grenzen zwischen den verschiedenen Therapieformen als schädlich, denn sie behindern die Therapeuten darin, das ganze Spektrum der eigentlich vorhandenen therapeutischen Möglichkeiten wahrzunehmen. Die Aufforderung zur optimalen Nutzung dieses Wirkfaktors führt daher zur selben Schlußfolgerung, zu der wir schon beim Wirkfaktor der Ressourcenaktivierung kamen: Psychotherapeuten sollten über die Grenzen der einzelnen Therapieschulen hinaus ausgebildet werden und handeln.
Quellen / Literatur:
K.Grawe Was sind die wirklich wirksamen Ingredienzien der Psychotherapie?