Rett-Syndrom

Dieses Zustandsbild wurde bisher nur bei Mädchen beschrieben; nach einer scheinbar normalen frühen Entwicklung erfolgt ein teilweiser oder vollständiger Verlust der Sprache, der lokomotorischen Fähigkeiten und der Gebrauchsfähigkeiten der Hände gemeinsam mit einer Verlangsamung des Kopfwachstums. Der Beginn dieser Störung liegt zwischen dem 7. und 24. Lebensmonat. Der Verlust zielgerichteter Handbewegungen, Stereotypien in Form von Drehbewegungen der Hände und Hyperventilation sind charakteristisch. Sozial- und Spielentwicklung sind gehemmt, das soziale Interesse bleibt jedoch erhalten. Im 4. Lebensjahr beginnt sich eine Rumpfataxie und Apraxie zu entwickeln, choreo-athetoide Bewegungen folgen häufig. Es resultiert fast immer eine schwere Intelligenzminderung. Nach eindeutig normaler Entwicklung Abnahme des Kopfwachstums zwischen dem 5. Lebensmonat und 4. Lebensjahr, Gleichzeitig Verlust der erworbenen zielgerichteten Handbewegungen zwischen 5. und 30. Lebensmonat, Gleichzeitig Kommunikationsstörung mit beeinträchtigter sozialer Interaktion und Störungen der Koordination beim Gang und den Rumpfbewegungen , Verlangsamung mit Störung der expressiven und rezeptiven Sprache, Stereotype Handbewegungen, nur weibl. Geschlecht betroffen Das Rett- Syndrom ist eine neurologische Störung und führt zu einer Verkleinerung des Zentralnervensystems. Im ZNS sind bestimmte Bereiche betroffen, nämlich die Basalganglien und hiervon insbesondere der Thalamus und die Substantia nigra. Störungen der Basalganglien führen bei Erwachsenen zum Parkinson-Syndrom. Die Substantia nigra ist für den Dopaminhaushalt verantwortlich. Es kommt durch die Störung zu einer Unterversorgung mit Dopamin. Es kommt nach einer unauffälligen prä- und perinatalen Entwicklung zu einer kognitiven und funktionalen Entwicklungsstagnation und anschließender Rückentwicklung. Der genetische Entstehungsmechanismus für das Rett-Syndrom ist bis heute nicht ganz geklärt. Obwohl die Forschung seit Oktober 1999 ein Stück weiter ist. Seit dem kennt man nun das verantwortliche Gen, das MeCP2 (gesprochen Mäkpietu), das auf dem X-Chromosom liegt, und das an der Produktionssteuerung eines noch unidentifizierbaren Proteins beteiligt ist. Im November 1999 wies die Gruppe von Amir und Mitarbeitern im so genannten MeCP2-Gen („methyl-cytosin binding protein 2“) Mutationen nach, die ausschließlich bei Mädchen mit Rett-Syndrom vorhanden waren (2). Diese Mutationen waren bei den Patientinnen neu aufgetreten, das heißt sie waren bei den Eltern nicht nachweisbar. In der Zwischenzeit wurden von mehreren Arbeitsgruppen Mutationen im MeCP2-Gen als Ursache für das RTT bestätigt. Ist das Gen, MeCP2, defekt, gelingt die Steuerung dieses Proteins nicht mehr. Dieses Protein ist zwar noch nicht identifiziert, jedoch vermuten Forscher, vor allem an der Stanford University und am Baylor Collage of Medicine in Houston, dass dieses Protein bedeutend für die Hirnentwicklung ist. Dass das verantwortliche Gen auf dem X-Chromosom liegt, wurde schon lange vermutet, da das Rett-Syndrom nur bei Mädchen beschrieben wird. Um das alles etwas mehr zu erklären, hier kurz Grundsätze der Genetik: In jeder Zelle unseres Körpers finden wir 46 Chromosomen in 23 Paaren; 23 Chromosomen kommen von der Mutter, 23 Chromosomen kommen vom Vater. Die Chromosomen sind die Träger der Gene, die wie eine „Blaupause“ arbeiten und so die Art und Weise unserer Entwicklung bestimmen. Nur in den Eizellen der Frau und den Spermazellen des Mannes befinden sich jeweils nur der einfache Chromosomensatz, also nicht 46 sondern 23, damit der kindliche Organismus nicht den vierfachen Chromosomensatz enthält. Bei der Befruchtung vereinen sich Eizelle und Spermazelle, so dass wieder 46 Chromosomen zusammen sind. Ein Chromosomenpaar bestimmt das Geschlecht eines Menschen, nämlich das X- und das Y-Chromosom. Frauen haben zwei X-Chromosomen (XX), je eines von Vater und Mutter. Männer haben ein X-Chromosom von der Mutter und ein Y-Chromosom vom Vater (XY). Frauen haben demnach zwei X-Chromsomen, obwohl sie nur eins für die genetischen Informationen benötigen. Darum wird ein X-Chromosom „abgestellt“ bzw. ausgeschaltet. Etwa die Hälfte der Zellen schaltet das von der Mutter kommende aus und die andere Hälfte das vom Vater kommende. Dieser Vorgang (X-Inaktivierung) geschieht nach einem zufälligen Muster. Tritt nun eine Mutation auf einem X-Chromosom auf, ist Mädchen eine Kompensationsmöglichkeit gegeben, da sie ja zwei davon besitzen, von denen eines abgestellt wird. Jungen ist diese Kompensationsmöglichkeit nicht gegeben. Tritt auf dem Gen MeCP2 nun eine Mutation auf, führt das bei Jungen zu einer Fehlgeburt, bzw. zum Tod kurz nach der Geburt. Bei Mädchen führt diese Mutation zum Krankheitsbild des Rett-Syndroms. Wie schwer oder leicht die Mädchen betroffen sind, hängt davon ab, wie viele Zellen das X-Chromosom mit dem mutierten Gen nach der X-Inaktivierung enthalten oder nicht enthalten: Sind bei der X-Inaktivierung viele X-Chromosomen, die das mutierte Gen tragen, ausgeschaltet worden, ist die Ausprägung gering; sind bei der X-Inaktivierung viele X-Chromosomen, die das normale Gen tragen, ausgeschaltet worden, ist die Ausprägung stark. SymptomatikDer Entwicklungsverlauf des Rett-Syndroms lässt sich in vier Stadien einteilen. Selbstverständlich bedeutet diese Einteilung nicht, dass die Entwicklung bei allen Mädchen mit Rett-Syndrom genau diesem Schema folgend und zeitgleich abläuft. Variationen im Ausmaß sowie vom Zeitpunkt sind möglich und von Individuum zu Individuum unterschiedlich. Bevor das erste Stadium erreicht wird, sind die Betroffenen nicht auffällig: sie werden nach, in der Regel, unkomplizierter Schwangerschaft geboren und erleben eine normale körperliche, sensomotorische und sprachliche Entwicklung in den ersten 6-18 Monaten. Mögliche Normabweichungen in der Entwicklung des Kindes sind wohl zu gering, als dass sie besorgniserregend für Eltern oder Ärzte wären. Um Hilfe bitten Eltern, wenn ihr Kind in das erste Stadium des Verlaufmodells (Phase der Stagnation) eintritt. Mit ca. 6 bis 18 Monaten beginnt die motorische Entwicklung zu stagnieren. Außerdem wird der Kopfumfang nicht größer bzw. die Zunahme des Kopfumfanges stagniert. Zudem lässt die Aufmerksamkeit und die Aktivität der Mädchen nach. Eltern berichten, dass ihr Kind in diesem Stadium plötzlich aufhörte zu Spielen oder all die Dinge nicht mehr tat, die es zuvor getan hatte. Hatte ein Kind beispielsweise schon Laufen gelernt, nutzte es nun in keiner Situation mehr das Krabbeln. Auch vermeiden die Kinder den direkten Blickkontakt. Diese Phase kann einige Monate andauern. Im zweiten Stadium (Regressionsphase), das zwischen dem ersten und fünften Lebensjahr für einige Wochen oder Monate anhält, gehen bereits erworbene Fähigkeiten (funktioneller Gebrauch der Hände, Sprache) verloren, eine allgemeine Rückentwicklung wird beschrieben. Außerdem tauchen die typischen Handbewegungen (waschende, wringende und klatschende Bewegungen) auf. In dieser Phase wirken die Mädchen autistisch. Sie sind sozial und emotional in sich zurückgezogen, isoliert, können wenig Kontakt zu ihrer Umwelt aufnehmen und verfallen zudem in plötzlich auftretende Schreiphasen. Durch Beschreibungen dieser Kinder seitens der Eltern, nimmt man an, dass die Mädchen in diesem Stadium die Fähigkeit verlieren, Situationen als Ganzes zu erfassen, Reize in Beziehung zueinander zu setzen. Lindberg spricht in diesem Zusammenhang von Störungen der sensorischen Perzeption und Integration. „Die Signale aus ihrem eigenen Körper und von der Außenwelt scheinen sie zu überwältigen und zu verwirren, anstatt ihnen sinnvolle Informationen zu übermitteln.“ (Lindberg, S. 20) So wirken sie verstört und geängstigt bei jeder Veränderung in ihrer Umwelt. Eine Mutter beschreibt das so: „(…) Sie fürchtete sich vor allem – Geräusche, Fremden, Wasser und überhaupt vor allen möglichen Veränderungen. Wenn sie sich erschreckte, begann sie zu schreien, hysterisch und untröstlich. Wenn man versuchte, sie aufzunehmen, blieb sie verzweifelt und versuchte mit Gewalt loszukommen. Sie konnte auch nicht mehr auf einem Stuhl sitzen, sie musste auf dem Boden essen. Nur im Bett und mit ihrer Puppe fühlte sie sich sicher.“ Andere Elternberichte: „Sie hörte von einem Tag zum anderen auf zu greifen – wenn man ihr einen Löffel in die Hand gab, tat sie so, als ob der heiß wäre.“ „Sie begann zu erbrechen während dem Essen – es schien als ob sie das Essen in ihrem Mund nicht spüren könnte und war überrascht, wenn es den Hals hinunterrutschte.“ (zit. nach Lindberg, 1991). Das Gangbild der Mädchen die laufen können, wird unsicher. Überhaupt wird die Grobmotorik unkoordiniert und mit abrupten Bewegungen. Im dritten Stadium (Jantzen 1998 nennt es die „pseudostationäre Phase), dass vom Vorschulalter bis ins Teenageralter dauern kann, beginnen die Mädchen ihre ihnen verbliebenen Fähigkeiten langsam wieder zu nutzen, ein Kontakt zur Umwelt wird wieder aufgebaut, so dass die Kinder nun nicht länger autistisch wirken. Die Entwicklung stabilisiert sich leicht, allerdings verstärken sich die Handstereotypien. Die Rumpfataxie [Ataxia griech. = Unordnung; Störung der Bewegungsabläufe und der Haltungsinnervation mit Auftreten unzweckmäßiger Bewegungen infolge gestörter funktioneller Abstimmung der entsprechenden Muskelgruppen. dtv Wörterbuch Medizin] ist nun deutlich, Anfälle treten häufig auf, sowie Skoliose. Darüber hinaus wird von Gewichtsverlust gesprochen. In der vierten Phase, in die die Mädchen erst nach vielen Jahren gelangen, ist eine weitere Verbesserung im kognitiven Bereich zu erkennen. Kommunikation ist verstärkt möglich, zwar kaum über Lautsprache, dennoch über gezielten Blickkontakt. Die epileptischen Anfälle gehen in ihrer Häufigkeit zurück. Eine deutliche Verschlechterung ist im Bereich der Orthopädie und Motorik auszumachen. Hier zwingen Skoliose, Abmagerung, Schwäche und Spastizität die Mädchen meist zur Immobilität. Es ist für Eltern und Pädagogen nicht selten schwer festzustellen, in welchem Stadium die Mädchen sich befinden. Zwei gleichaltrige Mädchen können so unterschiedlich in ihrem Entwicklungsstand sein, dass es schwer zu glauben ist, dass sie unter den Bedingungen des gleichen Syndroms leben. Die Diagnose Rett-Syndrom kann mit Sicherheit erst gestellt werden, wenn die Mädchen etwa fünf Jahre alt sind. Bis dahin werden häufig Fehldiagnosen, etwa frühkindlicher Autismus, von den Kinderärzten gestellt. In der gängigen Literatur zum Rett-Syndrom heißt es, die Mädchen würden, bezüglich der Intelligenz, kaum über einen Entwicklungsstand von Einjährigen hinwegkommen, bzw. sich auf der ersten bis zweiten Entwicklungsstufe nach Piaget befinden. Barbro Lindberg hat allerdings in ihren Studien beobachtet, dass die Mädchen die Stufe des präoperationalen Denkens erreichen. Die Annahme, Mädchen unter den Bedingungen des Rett-Syndroms seien schwer geistig behindert, muss wohl mit dem fortschreitenden Wissen über die Entwicklungspsychologie dieses Syndroms, immer mehr differenziert werden. Aufgrund von Elternberichten und Erfahrungen und Beobachtungen durch Pädagogen wird davon ausgegangen, dass „(…) die Mädchen „mehr“ verstehen, als ihnen unmittelbar anzumerken ist.“ (Jantzen 1998). Zur Lebenserwartung liegen noch keine epidemologischen Studien vor. Da das Syndrom erstmalig 1966 beschrieben wurde wundert das nicht. Die Forschung geht allerdings davon aus, dass die Lebenserwartung bei Frauen mit Rett-Syndrom nicht geringer als normal ist.

 

Quellen / Literatur:

Elternhilfe für Kinder mit Rett-Syndrom“ http://www.rett.de Rett’s Syndrome – A Neurodevelopmental Disorder : Report of Two Cases

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur