Selbstverletzungsverhalten

Auch Automutilation, man versteht darunter das Zufügen einer Verletzung am eigenen Körper, die mit Gewebeschädigung einhergeht, wobei keine bewusste suizidale Intention vorliegt. Oder: Eine Handlung mit nicht tödlichem Ausgang bei der eine Person eine oder mehrere der folgenden Handlungen ausführte: Willentliche Selbstverletzung z.B. durch sich selbst schneiden, oder Sprung von einer größeren Höhe. Einnahme einer Substanz in Überdosis, Einnahme von Drogen in einer Dosierung, die die Person selbst als selbstschädigend ansieht. Schlucken von nicht essbaren oder gefährlichen Gegenständen. Am häufigsten ist Selbstverletzendes Verhalten in der Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter zu finden. 72 % gaben an, dass sie sich in die Haut schnitten, 35 % fügten sich Verbrennungen zu, 30 % schlugen sich, 22 % verhinderten die Wundheilung, 22 % zerkratzten sich schwer die Haut, 10 % rissen sich Haare aus und 8 % brachen sich Knochen (Favazza & Conterio, 286) Im englischen Sprachraum gibt es eine Vielzahl von Begriffen für diesen Symptomkomplex : self – injurious behavior (Winchel & Stanley), self – destructive behavior (Green), self – mutilation (Favazza) etc., sowie spezifische Bezeichnungen, wie deliberate self harm (Romans et al.), self – damaging (Lacey) self inflicted wounds, wrist cutting, wrist – slashing (Grunebaum & Klerman), self – wounding (Tantum & Whitakker), self-mutilation (Suyemoto & Macdonald) und self-cutting (Himber, Judith). Favazza versteht unter repetitiver Automutilation, die ständige Beschäftigung mit dem Gedanken sich körperlich zu schädigen. Wiederholt misslingt es, dem Impuls sich selbst zu verletzen, zu widerstehen, sodass es zu einer physischen Verletzung mit Gewebsschädigung kommt.

Die Ursachen sind vielfältig, neben Traumen spielen Suchtmittel (vor allem Alkohol), Depressionen, familiäre Auseinandersetzungen und Selbstwertprobleme des Jugendalters eine Rolle. In machen Jugendlichen- Subkulturen sind Selbstverletzungen besonders häufig, eine quasi Ansteckung über die Identifikation mit anderen Betroffenen spielt dabei unzweifelhaft eine Rolle. Selbstverletzungen stellen eine Art verborgener Epidemie besonders unter jugendlichen und jungen Frauen dar, die nur selten zum Arztbesuch oder gar zur psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlung führt- obwohl es sich um ein ernstes Symptom mit Hinweisen auf schwererwiegende psychische Störungen handelt. 11% der Jugendlichen im Alter von ca. 14 Jahren fügen sich 1-3x/Jahr Verletzungen zu; mehr als 4% tun dies sogar 4x/Jahr. Mädchen sind doppelt so häufig betroffen wie Jungen. Befragt wurden 5500 13-15 jährige Schüler von Förder-, Haupt-, Realschulen und Gymnasien im Rhein-Neckar-Kreis zwischen 9/2004 und 1/2005(Prof. Franz Resch „Heidelberger Schulstudie“, Pressekonferenz zum 29. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik & Psychotherapie in Heidelberg17.03.2005) Nach einer britischen Studie an 6020 Schülern zwischen 15 und 16 Jahren hatten sich 6.9% im vergangen Jahr absichtlich selbst verletzt. Nur in 12.6% der Fälle kam es zu einer Konsultation eines Arztes oder eines Krankenhauses. Bei den jungendliche Frauen waren es 11.2% bei den jugendlichen Männern 3.2%; damit ist selbstverletzendes Verhalten bei Mädchen fast 4x häufiger als bei Jungen. Eine Studie an über 3000 amerikanischen Collegestudenten fand eine Lebenszeitinzidenz 17.0%, 75% davon mehrfach. 36% der Befragten kannten jemand der ein selbstverletzendes Verhalten zeigte. Nur 3.29% gaben an, mit einem Arzt über ihr Verhalten gesprochen zu haben. Auch hier waren junge Frauen, bisexuelle und Männer die sich ihrer sexuellen Orientierung nicht sicher waren häufiger betroffen. Emotionaler oder sexueller Missbrauch stellte auch nach dieser Befragung einen Risikofaktor dar. Häufig bestand gleichzeitig eine Essstörung. (PEDIATRICS Vol. 117 No. 6 June 2006, pp. 1939-1948) Selbstverletzungsverhalten bei Freunden und Familienmitgliedern war teilweise ansteckend. Drogenmissbrauch, Depression, Angst, Impulsivität und geringes Selbstvertrauen waren ebenfalls Risikofaktoren. Selbstverletzungsverhalten kommt auch bei Tieren vor, so soll es bei 1-2% der Hengste und Wallache ohne organische Ursache beobachtbar sein, bei Affen sind von Harlow und Harlow 1962 Beiß- und Reißbewegungen am eigenen Körper beschrieben worden, Hühnern ein neurotisches Federrupfen.

Selbstverletzungsverhalten bezeichnet die wiederholte selbst zugefügte, direkte, körperliche Verletzung ohne suizidale Absicht. Dennoch gilt, dass bei den meisten Patienten mit Selbstverletzungen eine ausgeprägte Suizidalität bzw. häufige ernsthafte Suizidgefährdung besteht. Nach einer aktuellen Übersicht gibt es eine Wiederholungsrate von 15% im ersten Jahr. Es gibt, die Zahlen zum Suizid liegen zwischen 0.5% und 2% nach einem Jahr und über 5% nach 9 Jahren. Menschen mit Selbstverletzungsverhalten haben danach ein um den Faktor 100 erhöhtes Suizidrisiko gegenüber der Durchschnittsbevölkerung. Man geht davon aus, dass etwa einem Viertel aller Suizide Selbstverletzungsverhalten im letzten Jahr vorausging. Selbstverletzungsverhalten gilt damit als einer der wesentlichen Risikofaktoren für Suizid. Suizide sind in dieser Personengruppe dennoch nicht so häufig, dass in Studien der verhütete Suizid ein Maßstab für den Therapieerfolg geworden wäre. Maßstab ist hier die Verhinderung weiteren Selbstverletzungsverhalten. Ein besonders hohes Suizidrisiko nach selbst verletzendem Verhalten besteht bei höherem Alter, männlichem Geschlecht, vorausgegangener psychiatrischer Behandlung oder diagnostizierter psychischer Störung, sozialer Isolation, häufigen Selbstverletzungen, dem Verstecken der Selbstverletzung zum Zeitpunkt der Selbstverletzung, medizinisch schwere Selbstverletzung, eindeutige suizidale Absicht bei der Selbstverletzung, Drogen- oder Alkoholmissbrauch, Hoffnungslosigkeit, schlechter körperlicher Gesundheit. Schützend wirkt soziale Eingebundenheit, familiäre Eingebundenheit, Religiosität, Lithium bei bipolaren Störungen, Optimismus. Das selbst verletzende Verhalten führt an sich nicht direkt zur Selbsttötung, dient eher selbsterhaltend der Beruhigung und Spannungslösung, dennoch muss immer auch mit ernsthaft suizidalen Handlungen gerechnet werden. Selbstverletzende Handlungen sind ein gravierendes Problem in der Psychiatrie und Psychotherapie des Jugendalters.

Bei einer Prävalenz von knapp einem Prozent der Bevölkerung findet sich Automutilation in einigen Patientengruppen gehäuft – beispielsweise bei Essstörungen in mehr als 25 Prozent. Vor allem Mädchen und junge Frauen (etwa 5:1) sind betroffen. Bei fast der Hälfte der Betroffenen hält diese Verhaltensstörung über 5 Jahre an, bei jedem 6. über 10 Jahre. Auch die Familie weiß bei mehr als der Hälfte der Betroffenen nichts von den Selbstverletzungen. Die meisten Betroffenen gehen von einer Suchtkomponente ihres Verhaltens aus. Ähnliche Mechanismen wie bei Suchterkrankungen sind zumindest wahrscheinlich, Selbstverletzungen sind ansteckend. Die Bedeutsamkeit traumatischer Lebenserfahrungen im Sinne der Entwicklung eines dissoziativen Symptomkomplexes wird immer wieder hervorgehoben. Ein psychischer Gewinn kann auch in der Erlangung von Mitgefühl, Aufmerksamkeit, sexuellem Lustgewinn, Befriedigung von Rachegelüsten oder Bewunderung und Anerkennung bestehen. (Deutsches Ärzteblatt 103, Ausgabe 40 vom 06.10.2006, Seite A-2627) Die Störung der Impulskontrolle geht mit Veränderungen im Serotoninstoffwechsel einher. Intrapsychisch stellt die Selbstverletzung eine Form der Affektregulation dar. Repetitive selbst verletzende Handlungen können einem suchtartigen Mechanismus gehorchen. Mittelalterliche Flagellantenprozession, die Sitte bei Ureinwohnern Neuguineas, dass sich die Stammesmitglieder beim Tod eines nahe stehenden Menschen ein Fingerglied abschneiden, belegen, Selbstverletzungen keine Erfindung unserer modernen Zeit sind. Vor allem in Buß- und Trauerritualen spielten sie in vielen Kulturen immer eine Rolle, aber auch als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe (z.B.: Piercing) . Selbstverletzungen nehmen zu, seit den 70er-Jahren werden leichtere Formen oberflächlicher Hautverletzungen bei jugendlichen Patienten immer häufiger beobachtet. Solche Verletzungen werden „deliberate self-harm“ (DSH) und „self-mutilation“ (SM) genannt. Die entscheidende Phase der tatsächlichen Umsetzung in die Gewebeschädigung wird häufig von Amnesie und Analgesie begleitet. Ähnlich wie auch die Büßer im Mittelalter wohl kaum Schmerz empfunden haben. Der Schnitt wird gesetzt. Während das Blut rinnt, fühlt der Patient ein Gefühl der Erleichterung und des Wohlbefindens. Er erlebt ein kurzes personales Erwachen. Das Spannungsgefühl erscheint momentan wie gelöscht. Zunehmend bauen sich jedoch negative Gefühle des Ekels, der Scham und der Schuld wieder auf. Angst vor entstellenden Narben und vor dem negativen Echo der Umgebung, unterbrechen das erleichternde Gefühl. Der Circulus vitiosus wird somit erneut aufgeladen.

Typischerweise findet man ein sich intensivierendes Spannungsgefühl unmittelbar vor dem Akt der Selbstverletzung und eine Erleichterung und Zufriedenheit während der selbstverletzenden Handlung. Es besteht keine unmittelbare suizidale Intention und das Syndrom repetitiver Automutilation ist auch nicht Ausdruck eines Wahnsyndroms, eines halluzinatorischen Impulses, einer transsexuellen Idee oder schweren geistigen Retardierung. Brodsky et al. 1995 haben 60 Patientinnen der New Yorker Hospital – Payne Whitney Psychiatric Clinic interviewt, die 1992 aufgenommen wurden und die Diagnose Borderline Persönlichkeitsstörung hatten untersucht. 30 Patientinnen machten Angaben zu Selbstverletzendem Verhalten, 57% davon gaben an zwischen 1 und 10 mal in ihren Leben Selbstverletzungsepisoden gehabt zu haben, 43 % hatten zwischen 11 und 500 Episoden erlebt. (Brodsky, Am.J.Psychiatry, 1995 (152 : 1788 -1792)) Von den 240 befragten Frauen mit Selbstverletzendem Verhalten in der Studie von Favazza und Conterio (Favazza, Armando R. Acta. Psychiatr.Scand., 1989 (79 : 283 – 289)stereotype Selbstverletzungen wurden folgende Zahlen zur Häufigkeit gemacht: Die Hälfte gab an, sich über 50mal verletzt zu haben, 23% zwischen 25 und 50mal, nur 2% hatten sich nur einmal selber verletzt. Favazza & Conterio schätzten die Prävalenz in der Gesamtbevölkerung auf 14 – 750 Personen/100 000 Einwohner, die sich selbst verletzen , in der Altersgruppe zwischen 15 und 35 Jahren jedoch auf 1800/100 000 Einwohner. Bei einer weiteren Definition von Selbstverletzung (psychotische und schizophrene Erscheinungsformen sind mit inbegriffen) betrüge die Inzidenz laut Walsh und Rosen (Rosen, Paul M & Walsh, Barent D : Patterns of contagion in Self – Mutilation Epidemics in : Am.J.Psychiatry 1989 (146 : 656 – 658) zwischen 14 und 600 Fällen pro 100000 Einwohner pro Jahr in den angloamerikanischen Ländern. Lacey und Evans beschreiben ein multiimpulsives Störungsmuster, das die statistischen Zusammenhänge mit Drogenabusus, Promiskuität, Essstörungen und anderen impulshaften Störungen, die mit vorübergehenden Kontrollverlusten einhergehen, betont. Innerhalb solcher multiimpulsiven Störungsmuster können Symptomverschiebungen stattfinden, wobei die therapeutische Betreuung eines Anteils der Störungen zu einem Ausagieren in anderen Bereichen führen kann. Am häufigsten kommt die Diagnose Borderline – Persönlichkeitsstörung gemeinsam mit Selbstverletzendem Verhalten vor, gefolgt von Eßstörungen, Störungen durch psychotrope Substanzen, sowie der Antisozialen Persönlichkeitsstörung, der Neurotischen Persönlichkeitsstörung und der Multiplen Persönlichkeitsstörung.

Taiminen et al. beobachteten, dass Selbstbeschädigungen (im Original : „Deliberate – Self – Harm“) in geschlossenen psychiatrischen Jugendstationen durch Ansteckung auch bei vorher nicht betroffenen Jugendlichen ausgelöst werden konnte. Sie sagen, dass der Großteil der auf diese Art angesteckten Selbstverletzungen als Kleingruppen – Ritus verstanden werden könne, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl herzustellen.

Modellvorstellungen zu den Funktionen von SVV (modifiziert nach Salbach-Andrae et al., Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 55 (3), 2007, 185–193)

  • Modell der Störung der Affektregulation: SVV hat die Funktion, den eigenen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, sie zu kontrollieren und zu regulieren.

  • Anti-Dissoziationsmodell: Traumatische Belastungen rufen Dissoziations-oder Derealisationszustände hervor, die durch SVV beendet werden können.

  • Ritusmodell, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl herzustellen

  • Anti-Suizid-Modell: SVV dient dazu, suizidale Handlungen zu vermeiden.

  • Manipulationsmodell: SVV hat die Funktion, das soziale Umfeld zu manipulieren.

  • Modell der interpersonellen Grenzen: SVV dient dazu, die eigenen Grenzen zu verdeutlichen.

  • Selbstbestrafungsmodell: SVV hat die Funktion, den Ärger gegenüber sich selbst zu äußern und sich für tatsächlich oder vermeintlich begangene «Vergehen» selbst zu bestrafen.

Bei der Boderline Persönlichkeitsstörung (BPS) treten selbst-, seltener auch fremdschädigende Impulshandlungen in zeitlichem Zusammenhang mit internalen und externalen Stressoren auf . Diese Stressoren induzieren nach kasuistischen Beobachtungen von Leibenluft et al.eine gereizte, dysphorische Verstimmung, die in ein unerträgliches Spannungsgefühl einmündet. Die Impulshandlung führt zu einer prompten Spannungslinderung und meist auch zu einer Stimmungshebung. Die entlastende Funktion von Impulshandlungen leistet im Sinne der negativen Verstärkung einer erheblichen Chronifizierungstendenz Vorschub. Während Impulshandlungen zunächst fast immer im Zusammenhang mit gravierenden Belastungssituationen auftreten, werden sie im Verlauf zu einer sich generalisierenden Antwort auf schon niedrigschwellige Stressoren. Selbstschädigendes Verhalten tritt aber bei der BPS nicht nur im Zusammenhang mit Affekterregungen auf, sondern auch mit einer quälenden inneren Leere und Langeweile. Wie auch in den entsprechenden diagnostischen Kriterien des DSM-IV ausgeführt, erleben Patienten mit BPS nämlich typischerweise zwei aversive emotionale Verfassungen, die einer emotionalen Übererregung, eines Überarousals und die von emotionaler Leere und Langweile, also eines Unterarousals. Zumeist gehen belastende zwischenmenschliche Erfahrungen den selbstverletzenden Handlungen voraus, wobei eine starke subjektive Färbung der Beurteilung sozialer Situationen mit Verzerrung der sozialen Wahrnehmung fassbar wird. Aus diesem Grund kann oft die Umgebung die Belastung des Patienten nicht antizipieren und erkennt erst die Kränkung, die am Ausgangspunkt des Spannungsbogens steht. Subjektiv besteht eine narzisstische Fehlregulation mit Wutgefühlen, Verzweiflung, dysphorischer Verstimmung, Angst und Gefühlen der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Eine Bewältigung widersprüchlicher und negativ getönter Affekte misslingt. Im Zuge eskalierender Selbstvorwürfe kommt es zur Wendung von Hass in Selbsthass. Die Zunahme des Spannungsgefühls führt zu weiteren dissoziativen Erlebnisweisen mit Trancezuständen, Amnesien, Körpergefühls- und Bewegungsstörungen. Selbstverletzungsverhalten hat eine – die Habituierung begünstigende – spannungslösende Funktion, die inzwischen auch anhand der Messung geeigneter psychophysiologischer Parameter objektiviert werden konnte; so fanden manche Untersucher bei sich selbstverletzenden forensischen Patienten typische Verlaufskurven psychophysiologischer Parameter, z.B. Herzfrequenz, Fingerblutvolumen, Fingerpulsamplitude im zeitlichen Ablauf einer imaginierten Selbstverletzungshandlung. Bei einem Großteil der Patienten werden die Selbstverletzungen unvorbereitet, plötzlich, aus dem Moment heraus vorgenommen; der Handlungsimpuls mündet ohne jeden Versuch des Zurückhaltens bzw. der Hemmung in die Handlung ein. Schmerz wird bei den Selbstverletzungen wird nicht empfunden. Oft fehlt sogar die Erinnerung an diese dissoziativen Zustände.

Die Auswahl der Selbstverletzungshandlung ergibt sich entweder durch zufällige situative Bedingungen (z. B. herumliegende Glasscherben) oder sie hat sich in der Vergangenheit im Dienst der Spannungslösung und Affektbewältigung bereits bewährt. Selbstverletzungen können nach manchen Hypothesen Folge einer Hyperaktivität des Zentralen Stress-sensitiven Neuroendokrinen Systems und vermehrter Kortisolsekretion sein. .Im Tierversuch treten Selbstverletzungen vor allem dann auf, wenn die „Kinderstube“ von Unberechenbarkeit und emotionalem Mangel geprägt war. Die Selbstverletzungen könnten damit in manchen Fällen erfolgreiche Einen besonderen Aspekt stellen Selbstverletzungen zur Vortäuschung politisch oder fremdenfeindlich motivierter Straftaten dar. Ziel ist hierbei zum eigenen Vorteilsgewinn (Appellfunktion). Bekannt sind auch Selbstverletzungen zur Belastung von Polizeibeamten, von Aufsichtspersonal und von Lehrern, zur Verschleierung von Suizidversuchen und zur Verdeckung eines eigenen Fehlverhaltens (zum Beispiel Einbruch oder Unterschlagung) (15). Als strafrechtliche Konsequenzen kommen die Vortäuschung einer Straftat (§ 145 Strafgesetzbuch) und bei Angabe einer konkreten Person falsche Verdächtigung (§ 164) oder Verleumdung (§ 187) in Betracht. Genaue Angaben über die Häufigkeit derartiger Selbstverletzungen zur Erlangung eines rechtlichen Vorteils liegen nicht vor. Im Jahr 2004 wurden laut Statistik des Bundeskriminalamtes 13 696 Fälle von „Vortäuschung einer Straftat“ erfasst. Beispiele sind das Einritzen von Hakenkreuzsymbolen oder SS-Runen in die Haut. Coping-Strategien für die Selbstregulation von Hyperarousal und/oder dissoziativen Zuständen sein um die anders nicht kontrollierbare Stressreaktion unter Kontrolle zu bringen. Favazza & Conterio haben die von ihnen untersuchten Frauen nach ihren Gefühlen nach der selbstverletzenden Handlung gefragt, dabei gab die Mehrheit an, dass es ihnen sofort nach der Selbstverletzung besser ginge, nach ein paar Stunden gaben schon 48 % an, dass es ihnen schlechter als vorher ginge, nach einigen Tagen berichteten nur noch 18 %, dass es ihnen besser als vorher ginge.

Wie geht es Betroffenen nach der Selbstverletzung Schlechter Keine Änderung Besser
Unmittelbar danach 21 % 13 % 66 %
nach einigen Stunden 48 % 22 % 30 %
nach einigen Tagen 50 % 31 % 18 %
Untersuchung Stichprobe / Kontrollgruppe Prävalenz von Sexuellem Missbrauch / Inzest
Favazza, Armando R. & Conterio, Karen : Female habitual self-mutilators in : Acta. Psychiatr.Scand., 1989 (79 : 283 – 289) 240 Frauen, die sich selber verletzen 46 %
Caroll, Jacqueline & Schaffer, Charles & Spensley, James & Abramowitz, Stephen I. : Family Experiences of Self – Mutilating Patients in : A.J. Psychiatry, 1980 (137 : 852 – 853) 14 sich selbst verletzende PatientInnen (10 Frauen) / 14 PatientInnen, die sich nicht selber verletzen 5 der sich selber verletzenden Frauen hatten von Inzest berichtet / eine Kontrollpatientin
Herpertz, Sabine : Phänomenologie, Genese und Psychodynamik selbstverletzenden Verhaltens und psychotherapeutische Schlussfolgerungen in : Fundamenta Psychiatrica, 1995 (9 : 115 – 124) 60 PatientInnen (53 Frauen), die sich selber verletzen, der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychosomatik / 60 PatientInnen, die sich nicht selber verletzen 20 PatientInnen berichten von Sexuellem Missbrauch / 6 PatientInnen der Kontrollgruppe

(Daten sind leider nicht nach Geschlecht getrennt)

Tameling, Annegret & Sachsse, Ulrich : Symptomkomlex, Traumaprävalenz und Körperbild von psychisch Kranken mit selbstverletzendem Verhalten in : Psychother.Psychosom.med.Psychol. 1996 (46 : 61- 67) 28 psychisch kranke, sich selbst verletzende PatientInnen (21 Frauen) / 35 PatientInnen, die sich nicht selber verletzen 10 von 21 Frauen gaben Inzest an, d.h. 48 %
Romans, Sarah E. & Martin, Judy L & Anderson, Jessie C & Herbison, G Peter & Mullen, Paul E : Sexual Abuse in Childhood and deliberate self harm in: Am.J.Psychiatry. 1995 (152 : 1336 – 1342) 252 Frauen aus der Bevölkerung, die von Sexuellem Missbrauch berichteten / 225 Frauen, die keinen Sexuellen Missbrauch angaben 95, 7 % der 23, sich selbst beschädigenden Frauen (Selbstmordversuche waren mit einbezogen) berichteten von Sexuellem Missbrauch
Sachsse, U & Eßlinger, Katja & Schilling, L. : Vom Kindheitstrauma zur schweren Persönlichkeitsstörung in: Fundamenta Psychiatrica 1997 (11 : 12 – 20) 43 PatientInnen mit Selbstverletzendem Verhalten (40 Frauen) 46 % der Stichprobe, d.h. 50 % der Frauen gaben Sexuellen Missbrauch an

Vor allem bei einigen angeboren oder erworbenen Erkrankungen des Gehirns tritt die so genannte stereotype Automutilation auf. Lesch – Nyhan – Syndrom, das Cornelia de Lange – Syndrom, das Rett – Syndrom, Familiäre Dysautonomie, das Gilles – de – la – Tourette -Syndrome, verschiedene Chromosomenanomalien, chronische Enzephalitis, Neurosyphilis und Hirnschädigungen durch Drogen und andere schädigende Substanzen. Beim Lesch – Nyhan – Syndrom, z.B. sind die Selbstverstümmelungen sehr spezifisch : die Patienten (diese Krankheit wurde bisher nur bei Männern beobachtet) beißen sich repetitiv und anfallsartig in Zunge, Lippen und Fingerkuppen. Versteckte Scham www.versteckte-scham.de/ Privates Austausch- und Informationsforum für SVV-ler und deren Angehörige und Freunde. Grundlage der Psychotherapie ist, eine sichere tragfähige Beziehung herzustellen. Zunächst ist es in der Behandlung selbstverletzenden Verhaltens bei Borderlinepatienten ein vordringliches Ziel, mit dem Patienten typische Stressoren zu identifizieren, die immer wieder in Affektentgleisungen hineinführen. Im Weiteren wäre der Gefährdung durch Zustände der Unteraktivierung und Dissoziation entgegenzuwirken. Schon bei der Gestaltung der Therapiesitzungen kann auf ein ausreichendes Reizangebot in Form eines aktiven, erlebnisorientierten Therapiestils geachtet werden. Der Einsatz von Entspannungstechniken ist wenig Erfolg versprechend, dagegen ist körperliche Aktivität, u. a. in Form von Bewegungs- und Sporttherapie indiziert; insbesondere drängenden autoaggressiven Impulsen sind intensive Körpererfahrungen entgegenzusetzen. Auch Selbstachtsamkeitsübungen können helfen, Unteraktivierung durch eine bessere Wahrnehmung internaler Reize zu kompensieren. Neben solchen, auf direkte Verhaltensänderung abzielenden Interventionen, hat die Arbeit am biografischen Bedingungsgefüge gewöhnlich Entlastung zur Folge, da bedrohliche Stressoren mit ihrem lebensgeschichtlichen Kontext verknüpft werden können und die Unangemessenheit affektiver Extremreaktionen in gegenwärtigen Situationen verständlich wird. Schließlich kann die therapeutische Beziehung als Reizschutz dienen, in der der Patient/die Patientin nicht mehr hilflos internalen Stressoren in Form von Gedächtnisinhalten ausgesetzt ist, sondern sie in einer vertrauensvollen Beziehung ordnen und bewältigen kann. Nach S.C Herpertz et al. Impulskontrolle und Affektregulation bei Persönlichkeitsstörungen,

Warum hören junge Erwachsene mit den Selbstverletzungen auf, Aussagen der Betroffenen: Patienten mit einer Vorgeschichte von Selbstverletzungen berichten, dass sie während der Zeit der Selbstverletzungen nur eine unzureichende Kontrolle über ihr Leben hatten, dies entweder durch Alkoholmissbrauch, unbehandelte Depressionen oder bei Jugendlichen eine Verunsicherung über die Beziehungen innerhalb der Familie. Ausschlaggebend in der Familiensituation waren undurchschaubare Beziehungen, ein Gefühl von Machtlosigkeit oder Hilflosigkeit, ein mangelnder Respekt vor der Einzigartigkeit der Person oder nicht gehört zu werden, bzw. unwichtig innerhalb der Familie zu sein. Alkohol scheint bei manchen Jugendlichen der Einstieg in den Teufelskreis der Selbstverletzungen zu sein. Stationäre Behandlungen waren Hilfestellungen in soweit sie halfen, die ursächlichen Erkrankungen zu identifizieren, zu einer Behandlung des Alkoholprobleme oder der Depression führten. Julia Sinclair and Judith Green BMJ 2005

Ungefähr 6% der Menschen mit Selbstverletzungen die stationär behandelt werden, werden im darauffolgenden Jahr wieder wegen Selbstverletzungen stationär behandelt. Am häufigsten treten die Selbstverletzungen dabei in den ersten 3 Monaten nach Entlassung auf. Mit zunehmendem Alter lassen Selbstverletzungen in der Regel nach. (doi:10.1136/bmj.a2278 BMJ 2008;337;a2278)

 

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Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur