Ein Erstklässler kommt aus der Schule nach hause und berichtet seiner Mutter, dass es komisch ist, dass der Lehrer Braun heißt, obwohl sein Name grün ist. Dieser auf den ersten Blick unsinnigen Wahrnehmung könnte eine Synästhesie zugrunde liegen. Das Wort kommt aus dem Griechischen, Syn steht dabei für gemeinsam und Ästhesie für Empfindung oder Wahrnehmung. Es handelt sich um eine seltene und ungewöhnliche Wahrnehmungsverknüpfung . Gemeint ist, dass bei manchen Menschen die Wahrnehmung mit einem Sinnesorgan regelmäßig und reproduzierbar zu Empfindungen führt, die sonst mit anderen Sinnesorganen wahrgenommen werden. Wir machen uns wenig Gedanken, wie aus den Lichtwellen Bilder in unserer Wahrnehmung werden. Wir gehen auch selbstverständlich davon aus, dass das, was wir sehen, genau so da ist, wie wir es sehen. Eine häufige Vorstellung von Wahrnehmungsvorgang ist die einer Abbildung, wie sie von einem Fotoapparat gemacht wird. Wahrnehmung ist allerdings ein sehr komplexer Vorgang. Damit wir einen Gegenstand oder einen Menschen erkennen bedarf es mehr als einer optischen Abbildung. Für diesen Vorgang wird das Bild auf den verschieden Ebenen des Sehsystems unterteilt. Jeder einzelne Bestandteil eines Bildes – etwa Farbe, Form, Lage im Raum und Bewegung – wird zunächst einzeln von verschiedenen, spezialisierten Regionen im Gehirn verarbeitet um dann wieder zu einer einheitlichen Wahrnehmung einer Gestalt zusammengefügt (gebunden) zu werden. Dem werden die Wahrnehmungen anderer Sinne (Geruch, Geschmack, Geräusche, Tasterinnerungen), die ähnlich verarbeitet wurden, hinzugefügt. Dieses Zusammenfügen zu einem Bild nennt man dann auch Bindung (engl.: binding). Dabei werden auch Details ergänzt, die wir gar nicht wirklich sehen, oder Wahrnehmen, um das „Bild abzurunden“. Dass wir etwas sehen, bedeutet also keineswegs, dass es auch wirklich da ist. Unsere vermeintlich zuverlässigen Wahrnehmungen sind lediglich Hypothesen über die Welt, die unser Gehirn unbewusst-rational konstruiert, und falsche Hypothesen führen bei allen Menschen immer wieder zu Wahrnehmungstäuschungen. Unser Gehirn ist so konstruiert, dass wir ständig neu lernen. Dabei werden ständig neue Verknüpfungen zwischen Nervenzellen verschiedener Hirngebiete hergestellt um bei Wiederholung der Wahrnehmung vorbereitet zu sein und schneller zu erkennen. Wir suchen automatisch hinter jedem Ereignis eine Ursache, in Zufallsereignisse interpretieren wir Gesetzmäßigkeiten hinein. Diese Gesetzmäßigkeiten versuchen wir bei weiteren Wahrnehmungen wieder zu bestätigen. Auch alle Menschen ohne Synästhesien haben eine individuelle Wahrnehmungswelt, die durch ein Wechselspiel von individueller Erfahrung und Erbanlagen geprägt ist.
Die Wahrnehmung von Menschen mit Synästhesien ist dennoch etwas besonderes. Wir alle kennen das Phänomen, dass Musik in unserer Phantasie Bilder hervorbringt, oder dass ein bestimmter Geruch bildliche Urlaubserinnerungen wachruft. Erlebnisse haben hier Erinnerungen geschaffen, die sich auf die Wahrnehmung verschiedener Sinne beziehen. Hierdurch werden unsere Erinnerungen plastischer, solche Assoziationen sind häufig mit Gefühlen verknüpft und werden dadurch zu einem eigenen Erlebnis. Menschen mit Synästhesien erleben eine wesentlich elementarere Verknüpfung der Sinnesmodalitäten. Musik sehen, bestimmte Buchstaben, Zahlen auch wenn sie schwarz/weiß geschrieben sind immer farbig sehen, Farben hören, einen Geschmack auf der Haut spüren, Worte als Bewegung spüren und vieles andere, sind für manche Menschen normale Wahrnehmungen, die sie durch ihr ganzes Leben begleiten. Am häufigsten treten dabei spezielle Farbwahrnehmungen beim Erkennen oder Hören bestimmter Buchstaben oder Wörter auf. Farbige Buchstaben bringen Synästheten meist durcheinander; sie können diese langsamer lesen und deren Farbe langsamer benennen, außer es wurden die Farben gewählt, die mit den Empfindungen des Betroffenen übereinstimmen.
Je nach Definition sind 20 oder 30 unterschiedliche Verknüpfungen der Sinne möglich. Bei Menschen mit Synästhesien tritt in der Regel eine bestimmte solche Verknüpfung auf. Innerhalb dieser Verknüpfungen besteht eine Individualität in der Wahrnehmung. Die Zahl 8 kann für einen bestimmten Menschen mit der Farbe rot, für einen anderen mit Grün oder Gelb verknüpft sein. Für Manche ist die Verknüpfung für 8 und acht unterschiedlich, für manche identisch. Lexikalische Synästhesien sind dabei die häufigsten Synästhesien. Dabei werden Buchstaben, Zahlen und Worte mit Farben verknüpft. Dem soll eine abnorme Querverbindung zwischen den Hirnzentren die Form und denen die Farbe verarbeiten zugrunde liegen. Die Synästhesie tritt erst auf, wenn die Form wahrgenommen wird. Die Verknüpfung bestimmter Sinneswahrnehmungen ist bei diesen Menschen bereits auf einer elementareren Stufe der Wahrnehmung angelegt und bleibt ein Leben lang konstant. Synästhesien können nicht willentlich herbeigeführt werden und treten bereits auf in einem vorbewussten Stadium der Wahrnehmung auf. Synästhesien werden meist auch emotional erlebt. Für die Betroffenen handelt es sich um tatsächliche Wahrnehmungen, von denen sie allerdings gelernt haben, dass diese von den meisten anderen Menschen nicht geteilt werden. Es handelt sich also nicht um Assoziationen, wie wir sie kennen, wenn uns beispielsweise bei einem bestimmten Geruch Urlaubserlebnisse auch bildlich in Erinnerung kommen. Auch Synästehesisten unter sich haben meist unterschiedliche Wahrnehmungen. Es handelt sich im Gegensatz zu manchen Annahmen auch nicht darum, dass ein Erleben was alle Kinder hätten den Synästhesisten nicht abtrainiert worden wäre. Es geht also um eine individuelle Besonderheit, eine besondere Spielart der Natur, die nicht kulturell bedingt ist.
Synästhesien geschehen bei den Betroffenen automatisch. Man geht davon aus, dass bei diesen Menschen andere Verbindungen zwischen verschiedenen Gehirngebieten, die für unterschiedliche Wahrnehmungen zuständig sind, vorhanden sind. Synästhesien werden real erlebt. Ob dabei abnorme Nervenfasern gewachsen sind, die diese Verbindungen schaffen oder ob hemmende Mechanismen fehlen ist noch unklar. Synästhesien entstehen nicht im Sinnesorgan und auch nicht in der primären Hirnrinde, zu der die Nervenfasern aus dem Sinnesorgan ziehen. Sie entstehen erst nach einer ersten Verarbeitung der Wahrnehmung im Gehirn in von der Hierarchie her mittleren Rindengebieten. Synästhesien sind erblich. Da sie bei Frauen 3-8x häufiger auftreten, geht man von einem X-chromosomal dominanten Erbgang aus. Menschen mit Synästhesien haben keine Intelligenzminderung, sie sollen ein besonders gutes Ortsgedächtnis für Gegenstände und eine besondere Vorliebe für Ordnung und Symmetrie haben. Auch die allgemeine Gedächtnisleistung ist oft überdurchschnittlich. Die meisten sind keine Rechtshänder. Überdurchschnittlich viele sollen Schwierigkeiten beim Rechnen und in der Rechts/Linksunterscheidung haben. Auch Aufmerksamkeitsdefizitsyndrome sollen bei diesen Menschen wie bei Verwandten häufiger vorkommen. Menschen mit Synästhesien sind so normal wie andere Menschen auch. Der Prozentsatz von den Menschen, die über „ungewöhnliche Erfahrungen“ berichten scheint aber größer zu sein.
Aus der Erforschung der Synästhesien erhofft sich die Wissenschaft Erkenntnisse, die auch für die normale Wahrnehmungspsychologie und die Verarbeitung der Sinneseindrücke aller Menschen bedeutsam sind. Synästhesien sind also für die Wissenschaft sehr interessant. Insbesondere mit der modernen funktionellen Kernspintomographie erhofft man sich von der Untersuchung von Synästhesisten Aufschlüsse über die Verarbeitung von Sinneseindrücken durch das Gehirn.
Das schwarz/weiße Bild zeigt Zahlenfolgen wie sie üblicherweise wahrgenommen werden, das untere Bild könnte die Wahrnehmung eine Menschen mit Synästhesien darstellen.