Unter der Klärungsperspektive geht es darum, dass der Therapeut dem Patienten dabei hilft, sich über die Bedeutungen seines Erlebens und Verhaltens im Hinblick auf seine bewussten und unbewussten Ziele und Werte klarer zu werden. Es geht hier nach Sachse (1992) um die Explikation impliziter Bedeutungen. Der Zustand und die Lebenssituation des Patienten werden hierbei nicht unter der Perspektive des Könnens oder Nichtkönnens, sondern hauptsächlich unter dem motivationalen Aspekt betrachtet. Warum empfindet, warum verhält sich der Patient so und nicht anders? Diesem Wirkprinzip können wieder sehr viele verschiedene therapeutische Vorgehensweisen zugeordnet werden. Die klassische Gesprächspsychotherapie wurde hier nur als ein prototypischer Gegensatz zur therapeutischen Bewältigungsarbeit besonders herausgestellt. Auch Techniken der Gestalttherapie und der verschiedenen psychodynamischen Therapieformen können als Versionen der Verwirklichung dieses Wirkprinzips angesehen werden. Und natürlich gilt dies im besonderen Masse für die psychoanalytische Therapie. Für sie gibt es eine ganze Reihe empirischer Hinweise, dass das Erzielen relevanter Einsichten mit eine bedeutsame Rolle für das Eintreten positiver Therapieeffekte spielt. Die Explikation von Bedeutungen unter dem motivationalen Aspekt, das Sich über sich selber klarer werden, das Sich besser annehmen können, stellt nicht nur einen empirisch nachgewiesenen therapeutischen Wirkfaktor, sondern auch ein therapeutisches Ziel von eigenem Wert dar. Viele Menschen suchen gerade dies und keine aktive Hilfe zu Bewältigung konkreter Probleme in einer Psychotherapie. Tatsächlich wäre es nahe liegend, die hier herausgearbeitete Unterscheidung der beiden zuletzt aufgeführten therapeutischen Wirkprinzipien und Zielsetzungen zur Grundlage einer differentiellen Indikationsstellung zu machen. Ob ein Patient eher bewältigungs- oder eher klärungsmotiviert ist, könnte zur Grundlage einer Zuweisung zu einem eher bewältigungsorientierten oder einem eher klärungsorientierten therapeutischen Vorgehen gemacht werden. Es stellt sich jedoch die Frage, ob man der Mehrzahl der Patienten mit einem solchen Entweder-Oder wirklich gerecht würde. Ist es wirklich vernünftig anzunehmen, dass für die einen Patienten ihre Problemlage mit dem Aspekt des Könnens vs. Nichtkönnens und für die anderen Patienten mit der Frage nach den motivationalen Bedeutungen vollständig und angemessen erfasst wird? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass für die meisten Menschen beide Aspekte wichtig sind, auch dann, wenn sie in eine Lebenslage kommen, in der sie alleine nicht mehr weiterwissen? Sind das Können und das Wollen, Kompetenz- und Motivationsaspekt, nicht vielmehr zwei einander ergänzende Perspektiven, die erst zusammen ein einigermaßen vollständiges Verständnis dessen ermöglichen, was ein Mensch tut und erlebt? Therapiekonzepte, die den einen oder anderen Aspekt ausklammern, scheinen mir unvertretbar reduktionistische Menschenbilder zu beinhalten. Wenn „einsichtsorientierte“ und „übende“ Verfahren, „aufdeckende“ und „zudeckende“ Therapie als Alternativen einander gegenübergestellt werden, wie es bisher verbreitet geschieht, dann wird zum Entweder-Oder gemacht, was eigentlich ein Sowohl-als-auch sein musste. Die Abgrenzungen zwischen den Therapieschulen führen dazu, dass die Probleme der einen Patienten, nämlich derjenigen, die in eine psychodynamische oder humanistischen Therapie kommen, einseitig unter dem motivationalen Aspekt betrachtet und behandelt werden, und diejenigen der anderen, die in eine Verhaltenstherapie oder eine anderen bewältigungsorientierte Therapie kommen, einseitig unter dem Kompetenzaspekt. Diese Trennung der beiden Aspekte liegt eigentlich nicht in der Sache begründet, sondern ist eine Auswirkung der mangelhaften Reichweite der zugrunde liegenden therapeutischen Ursprungstheorien. Wenn man sich von diesen theoretischen Prämissen einmal freimacht, liegt ein Sowohl-als-auch von Kompetenz- und Motiviationsaspekt eigentlich näher als ein Entweder- Oder. Therapeuten, die je nach Sachlage beide Perspektiven einnehmen und miteinander kombinieren können, werden der Verschiedenartigkeit therapeutischer Problemstellungen sicher besser gerecht als Therapeuten, die sich jeweils nur für KIärungsarbeit oder nur für Bewältigungsarbeit zuständig fühlen. Dies gilt nicht nur für die Indikationsstellung, sondern für den ganzen Therapieprozess. Therapie muss nicht entweder klärungs- oder bewältigungsorientiert sein. KIärungs- und bewältigungsorientierte Phasen können sich mit großem Nutzen für den Patienten gegenseitig abwechseln, einander vorbereiten und ineinander übergehen.
Quellen / Literatur:
Was sind die wirklich wirksamen Ingredienzien der Psychotherapie? – K.Grawe